Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
schwermachen, denn sie gingen stets davon aus, dass die Familie Informationen über die betreffende Person zurückhielt. Shan ging ein gewaltiges Risiko ein. Die Kriecher würden jeden Moment zurückkommen und außer sich sein, falls sie ihn beim Herumhantieren an den Leichen erwischten, doch er traute ihnen nicht hinsichtlich der Beweiseund brachte es einfach nicht über sich, die Frau zu verlassen. Er zog an ihrem Kittel und versuchte unbeholfen, die schreckliche Wunde zu bedecken. Da erst fiel ihm auf, dass an dem Stoff getrocknete Farbe in mehreren Schattierungen klebte. Es war bloß ein Arbeitskittel. Sie hatte ihn über ihrem dunkelroten Kleid angezogen.
Lauf weg , schrie eine Stimme in seinem Innern. Flieh zwischen die Felsen. Lokesh braucht dich.
Nach einem weiteren besorgten Blick in Richtung der Kriecher bückte er sich, um den zerrissenen Halsschmuck zu untersuchen, der aus fest geflochtenem Yakhaar angefertigt worden war. Shan zog an einem Ende, wodurch sich unter ihrer Schulter ein verziertes silbernes Kästchen löste. Ein gau . Sie hatte eine traditionelle Halskette mit einem traditionellen Amulett getragen.
In der Ferne erklang eine Sirene, die rasch näher kam, aber Shan rührte sich noch immer nicht. Schaudernd schob er die Wollmütze von ihrem Kopf und sah das kurze schwarze Haar, dann schlug er den Kittel zurück.
Beim Anblick des rotbraunen Stoffes schluchzte er unwillkürlich auf. Es war ein Mönchsgewand. Man hatte hier in der alten Klosterruine eine buddhistische Nonne ermordet und unter die Füße zweier Chinesen gelegt. Shan schnappte sich ihr gau und floh.
KAPITEL DREI
Er fuhr so schnell wie möglich, über flache Gebirgsgrate hinweg und schmale Wege hinauf, die kaum mehr als ausgetrocknete Bachbetten waren. An der Kreuzung des alten Pilgerpfades kam er schlitternd zum Stehen. Auch jetzt noch hielt er mit weißen Knöcheln und gesenktem Kopf das Lenkrad umklammert und schaffte es nicht, das tiefe Schluchzen zu unterdrücken, das seine Brust erbeben ließ. Der Tag, der so fromm und heiter begonnen hatte, war zu einem Albtraum geworden. Jamyang war nicht nur tot, er hatte Selbstmord und damit eine schwere Sünde begangen. Das alte Kloster, das für die geplagten Tibeter ein Symbol der Hoffnung geworden war, hatte sich in ein Schlachthaus verwandelt und befand sich in den Händen der Kriecher.
Jamyang war gestorben. Dann waren die Nonne und die beiden Männer gestorben. Nein, zwang er sich einzugestehen, die Leichen im Kloster waren seit mindestens vier Stunden tot gewesen. Also hatten sie als Erste ihr Leben verloren. Eine neue Woge der Verzweiflung schlug über Shan zusammen, als er die grausige Möglichkeit in Betracht zog, dass Jamyang die Taten verübt haben und dann von seinen Schuldgefühlen in den Selbstmord getrieben worden sein könnte. Hektisch versuchte er, den Tag Stunde für Stunde zu rekonstruieren. Die Morde hatten sich ungefähr zwei Stunden vor dem Zeitpunkt zugetragen, an dem sie Jamyang bei der Verfolgung des Diebsauf dem Berghang gesehen hatten. Shan erinnerte sich nun, dass Jamyangs Erscheinen dort unerwartet, ja sogar verblüffend gewesen war. Falls der Lama den hinkenden Dieb vom Schrein an verfolgt hätte, hätte er ihn viel früher einholen müssen.
Shan stieg aus dem Wagen und trat auf das Sims, auf dem Jamyang einige Stunden zuvor so merkwürdig gefühlsbetont verweilt hatte. Shan hatte geglaubt, der Lama habe den heiligen Berg betrachten wollen, aber das war von vielen Stellen aus möglich. Nur dieser Aussichtspunkt bot zudem aber einen freien Blick auf das alte Kloster. Jamyang hatte gefragt, ob Shan dort Anzeichen für Besucher ausmachen könne. Nein , rief eine Stimme in seinem Innern, das ist unmöglich . Der Lama hatte Gebete gesprochen, hatte sich bäuchlings vor dem Berg niedergeworfen und dann am Schrein die Opfergaben gereinigt. Shan hatte den wehmütigen Tonfall seiner Worte ignorieren wollen. Jamyang hatte sich von den Gottheiten verabschiedet. Er hatte aus irgendeinem Grund von den Morden gewusst.
Als Shan die Hütte erreichte, war Lokesh mit dem Leichnam des Lama allein. Er saß an Jamyangs Kopf und intonierte immer noch die Worte des Todesritus. Shan schürte die Glut in der kleinen Kohlenpfanne und bereitete Tee zu. Dann stellte er einen Becher davon neben seinen Freund, warf etwas Wacholder in die Flammen und wartete.
Als der alte Tibeter schließlich in seiner Rezitation innehielt, konnte er sich nur mit Mühe erheben, als sei seine
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