Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
glaube nicht, dass er den Mörder kennt. Sie sind zu dritt, hat er gesagt. Deshalb ist er nach Chamdo gefahren. Er wollte herausfinden, warum einer der anderen eine Nachricht an das Institut schicken sollte.«
»Drei, aber er ist es nicht. Damit bleiben zwei. Er kann uns ihre Namen nennen, und Lung wird ihnen die Zungen lösen.«
»Mit Bambussplittern und Drahtknüppeln? Nein. Aus dir spricht die Wut. Du würdest keinen unschuldigen Mönch foltern.«
»Aber Lung würde es, sobald er hiervon erfährt. Einer der beiden hat seinen Neffen und seinen Bruder ermordet.«
»Und einer nicht.«
Jigtens Zorn hatte sich nicht gelegt. Er hatte sich nur auf Shan gerichtet. »Ich sagte es doch schon«, knurrte er leise. »Das hier ist das chinesisch besetzte Tibet. Ein Tibeter begeht ein Verbrechen, und zehn werden dafür bestraft.«
»Nein«, sagte Shan. »Das ist nicht mein Tibet. Es ist nicht Dakpos Tibet. Es ist nicht das Tibet deiner Mutter und auch nicht das Tibet deines Clans.«
Jigten ließ den Kopf hängen. »Meine Mutter würde sagen,vom Berg wird wieder einer dieser Hagelstürme kommen und den Mörder bestrafen. Ist es das, was du meinst?«
»So was in der Art.«
Der Hirte musterte Shan schweigend, ging dann zu Dakpo, zog dessen Decke höher und verließ den Stall.
An seiner Seite regte sich etwas. Auch Meng sah ihn prüfend an. »Du erstaunst mich, Shan. Nach allem, was du durchgemacht hast, bist du immer noch so unschuldig. Du hast selbst zu mir gesagt, dass dieser Fall nie zu einem Prozess führen wird. Trotzdem glaubst du daran, dass der Gerechtigkeit irgendwie Genüge getan wird. Das ist in diesem Fall nur auf eine einzige Weise möglich.«
»Ich weiß nicht so recht, worauf du hinauswillst.«
»Ich sage, dass es Fälle gibt, in denen die einzige Gerechtigkeit aus einer schnellen Kugel besteht.«
Shan wirbelte zu ihr herum. »Nein! Niemals! Begreifst du denn nicht? Es wäre gegen alles, woran die alten Tibeter glauben.« Lokeshs Ermahnungen hatten ihn getroffen und waren ihm seitdem auch immer wieder in den Sinn gekommen. »Falls ich jemanden töten oder jemandes Tod in die Wege leiten würde, gäbe es eine unüberbrückbare Kluft zwischen ihnen und mir. Lokesh würde mich verlassen. Ich könnte das Vertrauen der Lamas niemals zurückgewinnen. Und falls ich nicht mehr bei ihnen leben dürfte, weiß ich nicht, ob ich überhaupt noch leben könnte. Du musst es mir versprechen. Keine Kugeln. Keine Tötung. Ich werde mich auf keinen Fall an einem Mord beteiligen, wie gerechtfertigt er auch sein mag.«
Meng streckte die Hand aus und strich mit einem Finger über seine Wange. »Du bist ein komplizierter Mann, Shan. Falls du den Täter in die Enge treibst, wird er versuchen, dich zu töten.«
»Versprich es mir, Xiao Meng.«
Sie lächelte schlaftrunken. »Wie hast du mich gerade genannt?«
Er wurde rot. Die liebevolle Anrede war ihm wie von selbst über die Lippen gekommen. Er hatte seit Jahrzehnten keine Frau mehr so bezeichnet. »Versprich es mir.«
»Natürlich. Ich verspreche es. Keine Kugel.«
»Niemals eine Kugel.«
»Niemals eine Kugel«, bestätigte sie und kuschelte sich an ihn.
***
Im Morgengrauen fand er sie bei ihrem Wagen wieder. Sie hatte die Straßenkarte auf der Motorhaube ausgebreitet und hielt ihr Mobiltelefon in der Hand. »Ich habe mir den Fahrplan der Kolonnen durchgeben lassen«, erklärte sie mit besorgter Miene. »Die sind den ganzen Tag über unterwegs.« Sie schaute zum Lastwagen. »Falls wir an einer der Straßensperren durchsucht werden, können wir den verletzten Mönch unter keinen Umständen erklären.« Sie zeigte auf die Karte. »Es gibt eine Nebenstrecke. Sie trifft unmittelbar nördlich von Lhadrung wieder auf die Schnellstraße. Keine Militärstützpunkte. Keine Polizeireviere. Bloß zwei kleine Dörfer. Aber der alte Mann weiß nicht, ob die Brücke bei dem zweiten Ort stark genug für den Lastwagen ist.«
»Die gibt es nicht mehr«, meldete sich hinter ihnen eine Stimme zu Wort. Jigten trat vor. »Sie wurde vor fünf Monaten unterspült.« Er fuhr mit dem Finger eine gestrichelte Linie entlang, die um das letzte Dorf herumführte. »Das ist ein alter unbefestigter Weg mit einer Furt über den Bach. Wir beschreiben einfach einen kleinen Bogen und kommen dicht hinter Chimpuk wieder heraus.«
Shan nickte langsam. Dann hielt er inne und zeigte auf den zweiten Ort auf der Karte. »Du meinst Shijingshan.«
»Die Chinesen haben das Dorf vor Jahren umbenannt.
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