Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Chinesische Landkarten müssen chinesische Namen tragen, also ist das für chinesische Reisende Shijingshan, der Paradieshügel. Für Tibeter ist es nach wie vor Chimpuk.«
Shan griff in die Tasche und entfaltete das Blatt Papier, das Meng ihm am Vortag gegeben hatte. Sie fuhren zu Jamyangs Geburtsort.
***
Kurz vor Mittag durchquerten sie die flache Furt und hielten am Rand des Schotterweges. Die holprige Fahrt war schmerzhaft für Dakpo gewesen, und als sie die hintere Klappe öffneten, sah er aus, als hätte man ihn erneut verprügelt. Er hielt seine Gebetskette so fest umklammert, dass die Knöchel weiß hervortraten. Jigten holte unaufgefordert Wasser, während Shan den Kopfverband des Mönches wechselte. Sie wuschen seine Wunden und gaben ihm kalte Suppe, bevor sie ihn wieder in seiner provisorischen Ruhestätte allein ließen.
Eine halbe Stunde später erreichten sie einen niedrigen Hügel oberhalb des Dorfes Chimpuk. Die baufällige kleine Ansiedlung war so abgelegen, dass man ihr China nur an den Schildern anmerkte. Auf der verblassten Tafel mit dem chinesischen Namen des Ortes hatte jemand das letzte Schriftzeichen weggekratzt, so dass dort nur noch Shijing stand. Paradies.
»Wer sind wir?«, fragte Meng mit hörbarem Unbehagen, als sie den Lastwagen neben einem Ziegenpferch am Dorfrand abstellten. Sie hatte ihr Fahrzeug ein Stück außerhalb zurückgelassen und trug nun zivile Kleidung. »Hier dürften nicht viele Fremde vorbeikommen.«
Hunde fingen an zu bellen. Eine alte Frau, die gerade die langen Kruppenhaare eines Yaks schnitt, aus denen die Tibeter Seile flochten, hielt inne und starrte sie an. Ein Mann, dermit einem Butterfass auf einem Hocker saß, streichelte einen riesigen schwarzen Mastiff, der im nächsten Moment bellend auf sie zurannte. Sie erhielten gar nicht erst die Gelegenheit, sich unauffällig zu verhalten.
»Wir sind Freunde des Lama Jamyang«, rief Shan und blieb stehen, weil der Mastiff sie erreichte. Das Tier sprang vor und biss ihn in den Knöchel.
Der Mann auf dem Hocker fing herzlich an zu lachen, und Shan fasste sich an den Knöchel. »Bleibt im Wagen«, sagte der Mann und zog sich an einem Stecken hoch. »So machen es alle anderen auch, die sich verfahren haben. Bleibt im Wagen und ruft. Das ist sicherer.« Er humpelte vor und schickte den Hund mit einer Geste seines Stabes weg.
»Wir haben uns nicht verfahren«, sagte Shan. »Wir suchen nach der Familie des Lama Jamyang.«
Der alte Mann beäugte misstrauisch Meng, bevor er sich Shan zuwandte. »Dann habt ihr euch verfahren und wisst es bloß nicht.« Er seufzte und wies mit seinem Stecken auf Shans Knöchel. Die Bisswunde blutete. Der Mann ließ Shan auf dem Hocker Platz nehmen, legte die Verletzung frei und spülte sie erst mit Wasser und dann – ungeachtet Shans Protests – mit chang , Gerstenbier. Schließlich betupfte er die Wunde mit etwas Honig und rollte das Hosenbein wieder herunter. »Sie will nichts mit Fremden zu tun haben«, verkündete er und deutete auf ein schlichtes eingeschossiges Haus am anderen Ende des Dorfes. Es stand ein Stück abseits der anderen.
Aus der Nähe erwies es sich als gepflegtes traditionelles Bauernhaus mit verblichenen aufgemalten Mantras unter dem Fenster und dem üblichen Zeichen von Sonne und Mond über dem Eingang. Neben der offenen Tür stand ein kleiner Webstuhl, an dem jemand an dem schweren Stoff gearbeitet hatte, aus dem die Transportsäcke der Yak-Karawanen gefertigtwurden. Eine alte Frau trat aus den Schatten. Ihr Gesicht war so faltig wie die schwarze Schürze, die sie trug, und ihr widerwilliges Nicken beschämte Shan. Sie wollte sie nicht hier haben, aber die Regeln der tibetischen Gastfreundschaft verboten ihr, die Besucher einfach abzuweisen.
»Bist du mit Jamyang verwandt?«, fragte er, als sie alle auf einem Teppich in der Mitte des Wohnbereiches Platz nahmen. Das ordentliche kleine Haus wurde durch eine halbhohe Wand unterteilt. Ab dem Herbst würden die Nutztiere der Frau auf der anderen Seite Unterschlupf finden.
»Ich bin die Schwester seiner Mutter. Alle anderen …« – sie vollführte eine unbestimmte Geste in Richtung des Fensters oder vielleicht auch zum Himmel – »alle anderen sind weg.«
»Meine Begleiterin heißt Meng«, erklärte er. »Ich bin Shan.«
Sie warf ein paar Stücke getrockneten Dung in die Kohlenpfanne und stellte einen Kessel darauf. »Ein Freund von Jamyang, hast du gesagt.«
Shan zögerte und sah sich im Raum um.
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