Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
stöhnte Dakpo auf, weil der Laster durch ein Schlagloch fuhr. Shan versuchte mit ihm zu reden, aber der Mönch verlor wieder das Bewusstsein. Wenn seine Augen offen waren, schienen sie nichts fokussieren zu können.
Zwei Stunden später hielt der Lastwagen an, und die hintere Klappe öffnete sich. Sie waren in einem Dorf an einer Straßenkreuzung und parkten hinter einem baufälligen Stall. Ein altes tibetisches Ehepaar, die Eigentümer des heruntergekommenen Rasthauses an der Ecke, half ihnen dabei, Dakpo auf einen Strohhaufen im Stall zu heben. Die Frau brachte einen kleinen Topf Suppe und schickte Shan und Meng nach einem Blick auf ihre Gesichter in das Rasthaus. Sie selbst setzte sich und fing an, Dakpo mit einem Löffel zu füttern.
Die anderen Gäste gingen hinaus, sobald sie Mengs Uniformsahen. Sie knöpfte den Waffenrock auf und hängte ihn über die Stuhllehne. In ihrer hellgrauen Bluse ging sie beinahe als gewöhnliche müde Reisende durch. Schweigend aßen sie die Suppe, die der alte Mann ihnen brachte, dann griff Meng in eine Tasche ihrer Uniformjacke, zog zwei gefaltete Blätter Papier heraus und schob das erste zu Shan herüber.
Es war die Fotokopie einer Seite aus einer offiziellen Akte der Öffentlichen Sicherheit, versehen mit dem Vermerk »Streng geheim«. Shan überflog den Text und runzelte verwirrt die Stirn. »Das ist bloß eine Personalakte«, stellte er fest. »Für einen Tibeter namens Pan Xiaofei. Achtundfünfzig Jahre alt. Zunächst tätig für diverse Sicherheitseinheiten. Später mit Sonderaufgaben betraut, was alles Mögliche bedeuten könnte.«
Meng nickte sachlich. »Er stammt aus einem Dorf namens Chimpuk, nur eine Stunde abseits der Schnellstraße. Ein Tibeter mit einem chinesischen Namen.«
»Ja, und?«
»Du weißt, was das Friedensinstitut macht.«
»Es befördert die interkulturelle Freundschaft«, sagte Shan spöttisch.
»Sei kein verdammter Narr! Du weißt, was es tut!«
Shan starrte sie an. Er versuchte sich einzureden, der Knoten in seinem Magen rühre vom Hunger her. Er sah auf das Papier. »Sie erzeugen politisch indoktrinierte Mönche«, sagte er heiser.
»Und? Du weißt nur zu gut, was sie sonst noch machen. Um Zitate des Vorsitzenden zu lehren, bräuchten sie keine ganze Abteilung hochrangiger Offiziere der Öffentlichen Sicherheit.«
»Sag du es mir, Leutnant. Ich will, dass du es laut aussprichst.«
Mengs Blick loderte auf. »Es gibt in dem Komplex ein gut bewachtes Büro. Ich musste eine Stunde auf die Gelegenheitwarten, mich hineinschleichen zu können. In einer speziellen Schublade dort stecken Karteikarten. Es sind die einzigen Exemplare, und es gibt eine für jeden Agenten. Ein tibetischer Name und ein chinesischer Name. So habe ich das hier gefunden.« Sie warf das andere Blatt auf den Tisch. Es war die Fotokopie einer Karte mit vielen Ziffern und Personalnummern, dazu eine Liste mit Beförderungen innerhalb der Bürokratie und der Parteiränge. In der Ecke gab es ein Foto mit demselben chinesischen Namen darunter. Doch es war ein Foto von Jamyang.
Shan wurde sehr still. Mit zitternder Hand nahm er noch einmal das erste Blatt und las die detaillierten Einträge. Die Universität in Sichuan, dann drei besondere Regierungsakademien im Osten, gefolgt von kurzen Einsätzen in mehreren Klöstern in Tibet, bezeichnet als Trainingsmissionen, und schließlich ein Jahr in dem Institut. Das Institut stellte den Abschluss der Ausbildung dar, und es wurde nur die Elite zugelassen. Shan zwang sich, den Rest zu lesen. Dann schaute er lange aus dem Fenster.
»Warum sollten die einen rundum geschulten Offizier nach Lhadrung schicken, damit er sich dort als Einsiedler ausgibt?«, fragte er mit bebender Stimme.
»Ich weiß es nicht. Es ergibt keinen Sinn. Ich glaube nicht, dass er nach Lhadrung geschickt wurde. Am unteren Rand ist Drepung notiert, das große Kloster außerhalb von Lhasa mit Hunderten von Mönchen. Das steht ganz sicher unter politischer Beobachtung. Solche Agenten sind in Selbstverteidigung ausgebildet, Shan, im Kampf mit provisorischen Waffen – oder mit Waffen, die als etwas anderes getarnt sind. Du hast diese Mönche auf der Straße gesehen. Das Feuereisen, das Lung Ma bei sich hatte, als er gestorben ist, hat nicht dem Mörder gehört. Jamyang hat ein identisches Exemplar besessen, aus seiner Zeit am Institut. Er hat es Lung Ma gezeigt, umihn davon zu überzeugen, dass er über den Mord an seinem Sohn die Wahrheit gesagt hat, und um erklären
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