Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Gegenüber der kleinen Kochnische gab es eine kang , eine breite Schlafplattform. Auf einer Seite der kang lag eine eingerollte Bettstatt. Die andere Seite war mit einem alten Webteppich bedeckt, dessen Muster einem Tigerfell ähnelte. Am Kopfende stand ein kleiner Altar mit einem Bronzebuddha und einem alten gau .
»Ich habe ihn kennengelernt, als er sich letztes Jahr im Bezirk Lhadrung niedergelassen hat«, erklärte Shan. »Er hat Hirten unterwiesen und einen alten Schrein restauriert. Er war ein sanftmütiger Mann, ein guter Lehrer.«
»Nein«, widersprach sie schroff. »Jedenfalls nie auf unserem Teppich.«
Während sie sich vorbeugte, um ihnen Tee einzuschenken, versuchte Shan, den Sinn ihrer Worte zu begreifen. Lokesh hätte gewusst, wie man mit der Frau sprechen musste. Sein Blick wanderte zurück zu dem Tiger-Teppich, und sein Gedächtnisregte sich. Lokesh hatte ihm mal erzählt, Tigerfelle seien verehrten Lamas vorbehalten gewesen, die darauf während ihrer Lehrstunden gesessen hätten. »Jamyang hat mir viel über die alten Bräuche beigebracht«, sagte er.
Die Frau ignorierte ihn und wies auf eine Schnur mit weißen Quadraten, die von einem Deckenbalken hing. »Da ist Käse«, sagte sie tonlos. Getrockneter Käse wie dieser fand sich in vielen bäuerlichen Haushalten.
»Er hat mir geraten, Leute nicht nach ihrem äußeren Anschein zu beurteilen.«
Die Frau schnaubte verächtlich. »Er hat Tod und Verrat verbreitet. Und über den äußeren Anschein haben wir durch ihn ebenfalls eine Menge gelernt.«
»Jamyang ist tot«, sagte Shan.
Die Frau zögerte nur einen kurzen Moment. »Im Bach hinter dem Haus steht ein Topf mit Joghurt.«
»Ich muss mehr über ihn erfahren. Was ist mit ihm in seiner Jugend geschehen?«
Sie musterte die Teetassen, als fragte sie sich, ob sie damit ihrer Pflicht genügt hatte, und fixierte dann Shan mit hartem Blick. »Was mit ihm geschehen ist, ist mit uns allen geschehen.«
Meng zupfte an Shans Ärmel und forderte ihn stumm zum Gehen auf.
Shan leerte seine Tasse und schob sie dann in Richtung des Kessels.
Die Frau runzelte die Stirn. »Wenn ihr mehr Tee wollt, müsst ihr mir mehr Dung holen«, sagte sie frostig.
Die Stille lastete schwer auf ihnen allen. Shan war sich immer sicherer, dass die alte Frau über wichtige Informationen verfügte, die das Rätsel um Jamyang erklären könnten. Und genauso sicher war er sich, dass sie diese Informationen nicht mit zwei chinesischen Fremden teilen würde.
Plötzlich füllte ein Schatten die Türöffnung aus. Die Augen der Frau weiteten sich. Mit einem Laut des Erstaunens beugte sie sich vor und berührte mit ihrer Stirn fast den Boden.
Dort am Eingang stand Dakpo und verzog vor Schmerz das Gesicht. Unter seinem Kopfverband drang Blut hervor.
»Diese beiden wurden von den Gottheiten gesandt«, sagte der Mönch. Er atmete schwer. »Sie haben mich gerettet. Shan ist ein Freund der alten Lamas.« Er fasste sich an den Brustkorb und sank auf die Knie. »Sie sind Wahrheitssucher«, stöhnte er und brach zusammen.
Die alte Frau bewegte sich mit überraschender Geschwindigkeit und sprang so flink auf, dass sie Dakpos Kopf abfing, bevor er auf die steinernen Bodenplatten schlagen konnte. Einen Moment lang hielt sie ihn im Arm, als wäre der Mönch ein verloren geglaubtes Familienmitglied.
»Sein Name ist Dakpo«, erklärte Shan. »Er kommt aus Chegar gompa im Bezirk Lhadrung. Einige seiner Rippen sind gebrochen. Man hat ihn in Chamdo überfallen. Wir konnten ihn nicht dort lassen.«
Es war Meng, die als Nächste die Stille brach. »Ich hole mehr Dung«, sagte sie und verschwand zur Tür hinaus.
Shan und die Frau arbeiteten schweigend, entrollten die Bettstatt und legten Dakpo darauf, während Meng die Glut in der Kohlenpfanne zu einem hellen Feuer anfachte. Dann kümmerte Shan sich um die Verletzungen des Mönches. Die Frau machte mehr Tee, stellte einen Topf für Suppe hinzu und bat Meng, darauf achtzugeben. Dann ging sie zur Hintertür hinaus. Als sie zurückkam, brachte sie einen hölzernen Kasten mit Salben und Tinkturen sowie ein zusammengerolltes Stück Stoff mit. Begleitet wurde sie von einem großen schwarzen Hund. Als Shan ihr den Kasten abnahm, knurrte der Hund. Shan wich zurück. Es war dasselbe bärenähnliche Tier, das ihn gebissen hatte. Die Frau beugte sich über den Mastiff undflüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Hund schien die Stirn zu runzeln. Dann drehte er sich zu Dakpo um und beschnüffelte den Mönch langsam
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