Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
und konzentriert. Immer wenn er innehielt, trug die Frau auf die entsprechende Körperstelle etwas Salbe auf.
»Ich heiße Lesha«, sagte sie, nachdem sie und der Hund fertig waren. Sie entrollte das Stück Stoff, das sie mitgebracht hatte, und hängte es über Dakpo auf. Es war ein kleines Gemälde und zeigte eine vertraute blaue Gottheit. Das abgenutzte thangka konnte Hunderte von Jahren alt sein.
» Tadyatha om bekhandzye «, setzte Shan an.
Leshas ungläubige Miene entging ihm nicht, während er mit der Anrufung des Heilenden Buddhas fortfuhr.
Die Anspannung schien von der alten Frau abzufallen. Sie nickte und stimmte in das Mantra ein.
Als Shan danach den Kopf hob, stellte er fest, dass Jigten sich hinzugesellt hatte und Meng leise dabei half, die Mahlzeit zuzubereiten. Während sie aßen, erzählte Shan von seiner Bekanntschaft mit Jamyang und beschrieb dessen jähen Tod.
Lesha äußerte sich nicht dazu, bis sie an dem kleinen Altar etwas Weihrauch entzündet und vor dem bronzenen Buddha einige Gebete gemurmelt hatte. »Wir hatten früher wunderschöne Höfe«, fing sie schließlich an, »meine Familie und die von Jamyangs Vater. So lange wir uns erinnern konnten, war ein Sohn aus jeder Generation ein großer Lama geworden. Uns sind viele glückliche Jahre vergönnt gewesen. Sogar nach dem Einmarsch der Chinesen in Lhasa hat es noch Jahre gedauert, bis sie auch uns fanden. Und dann war es bloß ein Haufen chinesischer Jugendlicher in Militärlastwagen. Sie stellten alle Väter und Mütter unter Anklage und beschuldigten sie, Landbesitzer zu sein. Die Chinesen sagten, das sei ein Verbrechen gegen das Volk. An manch anderen Orten verloren die Landbesitzer lediglich ihr Eigentum und wurdenArbeiter, aber unsere Leute hier waren stolz. Sie nannten das Verfahren eine Farce. Sie sagten, sie seien freie Tibeter, die sich nicht der Gerichtsbarkeit von chinesischen Kindern unterwerfen würden. Die Chinesen lachten und sagten: ›Mal sehen, ob auch unsere Kugeln eine Farce sind.‹ Dann haben sie alle hingerichtet. Jamyangs Eltern. Meinen Mann. Ich lag damals krank im Bett, sonst hätten sie auch mich getötet.
Danach hat Jamyang bei mir gelebt. Ein paar Jahre waren wir ganz zufrieden. Mein Bruder Ugen war Lama in einem gompa bei Lhasa. Wenn er zu Besuch kam, hat er auf dem Tigerfell gesessen, wie schon Generationen vor ihm. Dann hat er davon erzählt, wie es früher war und dass der Dalai Lama eines Tages zurückkehren würde. Jamyang hat ihm begeistert zugehört und wollte auch unbedingt ein Lama werden, genau wie sein Onkel. Doch seine chinesischen Lehrer sagten, er sei zu klug, um hierzubleiben. Sie haben ihn weggeschickt und ihm einen chinesischen Namen gegeben. Nach der Universität kam er ganz aufgeregt zu Besuch. Man würde ihm nun doch gestatten, ein Mönch zu werden, und arbeiten sollte er beim Büro für Religiöse Angelegenheiten.«
Lesha trank einen Schluck Tee und lächelte bekümmert. »Ich sagte zu ihm, um ein Mönch zu werden, musst du in ein Kloster gehen und dort viele Jahre lang lernen. Er sagte, er würde sogar in mehrere Klöster gehen und ihnen die neue Ordnung der Dinge beibringen. Ich sagte, er sei zu einer Marionette derjenigen geworden, die seine eigenen Eltern ermordet hatten. Da hat er mich angeschrien, ich sei bloß eine rückwärtsgewandte alte Hexe, die nichts über die heutige Welt wisse.
Mein Bruder ist zu ihm gegangen und hat versucht, ihn davon zu überzeugen, die Behörde zu verlassen und stattdessen zu ihm ins gompa zu kommen, um ein echter Mönch zu werden. Einige Wochen später wurde mein Bruder verhaftetund in eines dieser Zwangsarbeitslager geworfen. Sie sagten, er habe China verraten. Das Mutterland haben sie es genannt.« Sie schüttelte den Kopf.
»Es hat fast drei Jahre gedauert, bis Jamyang das nächste Mal zu Besuch kam. Er war beunruhigt. Er hat ständig den Tiger-Teppich angestarrt. Er konnte nicht schlafen. Ich habe ihn oben auf einer der Weiden gefunden. Wir haben im Mondlicht dagesessen, und er hat mir seine Schande gestanden. Nicht lange nach seinem letzten Besuch hatte man ihm eine große Beförderung angeboten, dafür aber einen Loyalitätsbeweis verlangt. Also hatte er seinen Onkel verraten. Jamyang hatte angenommen, Ugen würde in irgendeinem Umerziehungslager landen, höchstens für ein paar Monate. Erst jetzt hatte er herausgefunden, dass man seinen Onkel zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt hatte.« Lesha senkte den Kopf und wischte sich eine
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