Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
blasen, nie erwischt werden?«
»Nein, nur wieso wir uns überhaupt wegen ihnen den Kopf zerbrechen sollten.«
»Liang hat nicht vor, Norbu verhaften zu lassen. Daher hat er die Anweisung auch nur an die tibetischen Polizisten geschickt.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Liang ist weg. Ruf in der Zentrale an, und erkundige dich. Er ist hier fertig. Dieser Befehl ist sein Abschiedsgruß.« Er sah Mengs unschlüssige Miene. »Ruf an«, beharrte Shan. »Frag nach ihm.«
Sie runzelte die Stirn und nahm den Telefonhörer. In der Zentrale sprach sie erst mit einer Person, dann mit einer anderen, bevor sie wieder auflegte. »Er hat aus dem Büro, das man ihm zur Verfügung gestellt hatte, all seine Sachen mitgenommen«, berichtete Meng. »Offiziell ist er weg, weiter zu seinem nächsten Auftrag. Die sagen, er könnte aber noch im Gästehaus sein. Es ist ja noch Wochenende. Wahrscheinlich wird er erst morgen abreisen.« Sie schaute wieder zu den Papieren auf ihrem Schreibtisch. »Warum hat er die Verhaftung ausgerechnet jetzt angeordnet?«
»Er will, dass die Tibeter davon erfahren, und indem er den Befehl an die tibetischen Polizisten schickt, erreicht er genau das. Haben die Beamten das Fax schon gesehen?«
»Einer von ihnen hat es gelesen und ist weggegangen.«
Shan nickte, als würde das seine These untermauern. »Liang will alle glauben machen, Norbu befinde sich in großer Gefahr, so dass niemand Verdacht schöpft, wenn der Abt ganz plötzlich aus Tibet flieht. Damit endet diese Phase ihres Plans«, sagte Shan. »Es ist der letzte Akt ihres Dramas, um sicherzustellen, dass Norbu nicht als gewöhnlicher Flüchtling in Indien eintrifft, sondern als Held. Uns läuft die Zeit davon. Morgen Nacht ist Vollmond. Bis die Polizei ihn holen kommt, wird er längst im Lastwagen der Schmuggler verschwunden sein.«
»Ich verstehe es immer noch nicht.«
Er zog einen Zettel aus der Tasche und reichte ihn ihr.
»Was ist das?«
»Ich und Ko. Unsere Registrierungsnummern.«
Ihre Züge verhärteten sich. »Was soll ich damit?«
»Ich muss Liang wieder herlocken. Ich kann nicht zu den Mönchen gehen und ihnen sagen, ihr Abt sei ein Spion und Mörder. Sie würden es mir unter keinen Umständen glauben. Also müssen sie dieses Geheimnis von Major Liang selbst erfahren.«
Meng hob noch einmal den Zettel. »Was soll ich damit?«, wiederholte sie.
»Liang kann mich nur für ein Jahr wegsperren lassen. Ein Jahr halte ich aus. Es wird wie eine lange Meditation sein, erzwungen durch Ketten. Doch es besteht die Möglichkeit, dass er die Drohung wahr macht, die er mir bei der letzten Festnahme angekündigt hat, und er mich jedes Jahr neu verlegen lässt, damit ich unsichtbar werde. Falls das passiert, bitte ich dich um einen Gefallen. Überprüfe alle paar Monate oder vielleicht einmal im Jahr das zentrale Gefangenenregister. Es ist mir sehr wichtig, Xiao Meng, ein großer Dienst, den du mir erweisen könntest. Und den ich dir nie vergessen würde. Dann lass Kound mich wissen, wo der jeweils andere steckt. Die Öffentliche Sicherheit kann Häftlingen Nachrichten zukommen lassen. Andernfalls …« Ihm stockte die Stimme. »Andernfalls werde ich ihn nie wiederfinden. Und heute würde der letzte Tag sein, an dem ich meinen Sohn jemals gesehen habe.«
Ihr Gesicht verlor sämtliche Farbe. »Was hast du vor?«
»Lokesh hat mal zu mir gesagt, Worte seien hohle Dinge. Die Wahrheit finde sich nur im Herzen und in Taten.«
»Bitte, Shan. Keine Rätsel mehr.«
»Die Tibeter werden die Wahrheit aus meinem Mund nicht akzeptieren. Aus deinem auch nicht. Also muss es ihnen gezeigt werden. Ich werde Liang zurück hierher zwingen, damit tibetische Ohren hören können, was ich zu sagen habe. Deine Polizisten werden an Liangs Reaktion die Wahrheit erkennen und das Kloster benachrichtigen. Seine Rückkehr in dieses Tal stellte eine große Gefahr für seine Mission dar. Er musste die Situation bis zum Siedepunkt bringen und dann verschwinden, um nicht alles zu riskieren. Er könnte nämlich die purbas verscheuchen, die darauf warten, Norbu nach Indien zu bringen. Nur zwei Dinge würden Liang dazu verleiten, dieses Risiko zu ignorieren. Eine Gelegenheit, sich umfassend an mir zu rächen, und eine Möglichkeit, seinen Fehler auszubügeln und doch noch die Amerikanerin zu ergreifen. Ich werde ihm zu beidem verhelfen. Alle halten mich bereits für den Knochenfänger, der einen Lama getötet hat. Es wird sie also nicht überraschen, wenn ich weitere
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