Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
die Lamas kennengelernt hatte, die aus dem seelisch gebrochenen, von Drogen benebelten Körper, der von der Öffentlichen Sicherheit dort abgeladen worden war, wieder einen Menschen gemacht hatten. Die schäbigen Behausungen waren für ihn zu Kapellen geworden. Viele gute und unschuldige Männer waren in ihnen und auf dem Exekutionsplatz gestorben, Männer, die ihn bis heute in seinen Träumen und Albträumen heimsuchten.
Meng rüttelte ihn an der Schulter. Sie waren am Haupttor, und ein Wachposten beugte sich mit einem Klemmbrett zum Fenster herein. »Wie heißt dein Sohn, Shan? Sie brauchen seinen Namen.«
»Shan Ko«, sagte er mit umschlagender Stimme. »Baracke vierzehn.«
Der Posten hielt bei dem Namen kurz inne, sah Meng fragend an und ließ das Klemmbrett sinken, ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen. »Sparen Sie sich die Mühe«, murmelte er.
»Ist er nun ein Häftling in der 404ten oder nicht?«, hakte Meng nach.
»Natürlich ist er das. Aber er steckt seit dieser Woche in Einzelhaft. Und in Einzelhaft darf kein Besuch empfangen werden.«
Erst als Meng ihn besorgt ansah, begriff Shan, dass er laut aufgestöhnt hatte.
»Wir kommen trotzdem herein«, beharrte Meng.
Der Posten zuckte die Achseln und wies auf einen Schotterstreifen jenseits des Tors.
Shan erhob keine Einwände, als sie ihm auftrug, er solle im Wagen warten. Er beobachtete das Gelände hinter dem Stacheldraht und sah die spindeldürren Sträflinge umherschlurfen. Einige von ihnen trugen alte Männer, die zu schwach zum Laufen waren, hinaus in die Sonne, eines der sonntäglichen Rituale des Lagers. Das hier war keine Umerziehungseinrichtung, sondern einer der Orte, an denen Peking seine Feinde zu Staub zerrieb. Shan umklammerte unwillkürlich die Sitzkanten, als rechne ein Teil von ihm damit, jeden Moment gepackt und wieder hinter den Draht geworfen zu werden. So war es immer, wenn er an den Besuchstagen warten musste. Manchmal ging er vor dem Tor erst eine Weile auf und ab, um sich zu beruhigen, bevor er das Gelände betrat. Einmal ein Sträfling, immer ein Sträfling.
Es dauerte fast eine Stunde, bis Meng endlich in Begleitung eines Aufsehers zurückkam. »Nur fünfzehn Minuten«, verkündete sie. »Es tut mir leid.«
Als er ausstieg, warf er ihr einen verwirrten Blick zu und wusste, dass er sich eigentlich bedanken müsste. Aber hier im Gefängnis, wo Meng in ihrer Uniform neben ihm stand, konnte er einfach nicht vergessen, dass er von Frauen wie ihr mehr als einmal verhört und sogar geschlagen worden war. Andererseits war es nichts weniger als ein Wunder, einen Gefangenen aus der Einzelhaft zu holen, und sei es nur für ein paar Minuten.
Shan wurde in die sterile und zugige Kammer gebracht, die mit ihren vergitterten Fenstern für Besuche vorgesehen war. Man hatte hier vier schwere Metallstühle mit Bolzen im Zementboden verankert, jeweils mit zwei Hockern davor. Er starrte aus einem der Fenster und hielt nach vertrauten Gesichtern unter den Gefangenen Ausschau, bis er hörte, wie sich am anderen Ende des langen Korridors, der zu diesem abgesonderten Raum führte, eine schwere Metalltür schloss. Shan nahm schnell auf einem der Hocker Platz. Dies wäre besser, als zu neugierig zu wirken.
Das Rasseln der Ketten, die immer näher kamen, war für Shan stets eine langsame Folter. Sie schienen sich mit jedem Schritt fester um sein Herz zu wickeln. Er zwang sich, unbeirrt den Metallstuhl zu fixieren, und blickte nicht einmal auf, als ihm klar wurde, dass das Rasseln diesmal anders klang als die üblichen Fußfesseln.
Dann plötzlich waren sie neben ihm, zwei bullige Aufseher zu beiden Seiten ihres schmalen Gefangenen. Shan biss die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Um Kos Hals lag ein schwerer Lederkragen mit einer Öse, durch die eine Kette verlief. Diese Kette war um seine Handschellen gewickelt und unten an einer Öse seiner Fußfesseln befestigt. Die Wärter stießen ihn auf den Stuhl und benutzten eine weitere Kette, um ihn an einem Metallring des Stuhls zu sichern. Dann zogen sie sich zurück.
Als Shan aufblickte, grinste sein Sohn. »Die halten mich offenbar für den wildesten Tiger in ihrem Käfig.«
Shan öffnete den Mund, bekam aber kein Wort heraus. Er schluckte und versuchte es noch mal. »Was ist passiert?«
»Als kein Brief von dir gekommen ist, habe ich mir Sorgen gemacht. Aber dann haben sie mich eines Nachts aus der Baracke gezerrt und in eine Zelle geworfen. Da wusste ich, dass alles in Ordnung
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