Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
war.«
»Aber warum, Ko? Was war los?«
»Nichts. Das meine ich ja«, sagte Ko, immer noch grinsend. »Ich hatte diesmal absolut nichts gemacht. Deshalb wusste ich ja, dass es dir gut gehen muss und du bloß gerade etwas getan hattest, was denen mächtig auf den Sack gegangen ist.«
Ko war ein gut aussehender junger Mann gewesen, doch die Jahre im Gefängnis hatten ihn vorzeitig altern lassen. Er war hart und dünn und vernarbt. Zwei einst gebrochene Finger hatten nie richtig heilen können und blieben nun dauerhaft krumm. Sein Grinsen enthüllte Zähne, von denen Stücke abgesplittert waren – als Folge zahlreicher Schläge. Er roch nach Urin.
»Bekommst du zu essen?«, fragte Shan.
»Na klar. Haufenweise Rindfleisch und Hühnchen. So viel, dass ich eine Diät einlegen musste.«
Shan lächelte matt. Er widerstand dem Impuls, aufzuspringen und seinen Sohn zu umarmen, weil er befürchtete, damit die Wärter im hinteren Teil des Raumes zu provozieren. »Ich hatte neulich nachts einen Traum«, sagte er zu Ko. »Genau genommen eine Erinnerung, aber unglaublich intensiv. Ich habe dich besucht, als du fünf oder sechs Jahre alt warst, und bin mit dir auf den Grillenmarkt in Peking gegangen. Dort gab es Hunderte von Grillen – kämpfende Grillen, singende Grillen, Grillen, die einfach nur auf ihre Schönheit hin gezüchtet worden waren – und jede in ihrem eigenen Käfig. Ichkonnte dich nicht mehr von dort wegbekommen. Wir sind stundenlang geblieben und haben uns mit den alten Männern unterhalten, die sie verkauft haben. Sogar die Käfige waren erstaunlich, kunstvolle kleine Gebilde aus Bambus und Rosenholz und passend geformten Flaschenkürbissen mit verzierten Elfenbeindeckeln. Einer der Männer hat dich seine Grille an einer geflochtenen Seidenschnur spazieren führen lassen. Du hast die ganze Zeit gelacht. Ich habe dir von meinem Großvater erzählt, der eine grüne Grille mit einem komischen Namen hatte, die immer um Mitternacht gesungen hat. Du hast andauernd über diesen Namen gekichert und ihn auf dem Heimweg immerzu wiederholt.«
Ko starrte ihn nun mit leerer Miene an, als hätte er ihn nicht gehört. Mitunter blieb er während Shans gesamtem Besuch so. Er hatte einige Monate in einer psychiatrischen Anstalt für kriminelle Geisteskranke zubringen müssen, in der experimentelle Medikamente eingesetzt wurden.
Shan sprach weiter – über das Wetter, über Lokesh, über die neue Pionierstadt. Das machte er immer so, wenn Ko sich ausblendete, obwohl er nicht wusste, ob für Ko, für sich selbst oder für die Wachen.
»Es kommt regelmäßig eine Eule«, sagte Ko auf einmal.
Shan neigte den Kopf.
»Oben in der Wand meiner Zelle gibt es ein winziges Fenster. Die Eule kommt mitten in der Nacht. Sie spuckt Fell und Knochen ihrer Beute aus, und ich esse das.« Kos Stimme wurde zu einem Flüstern. »Neulich hat sie eine Feder fallen gelassen. Ich muss die versteckt halten, sonst wird sie konfisziert. Aber wenn die Wärter nicht in der Nähe sind, hole ich sie hervor und schaue sie mir genau an. Weißt du, eine solche Feder ist ein echtes Wunderwerk.«
»Ich weiß, was Lokesh dazu sagen wird. Eine Gottheit in Eulengestalt besucht dich.«
Ko grinste erneut. »Vor fünf Jahren hätte ich darüber gelacht. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher.«
»Dann besteht noch Hoffnung für dich, mein Sohn.«
Sie lächelten beide. Trotz des Ortes, an dem sie sich befanden, trotz der qualvollen Wege, die ihre Leben genommen hatten, lächelten sie viel, wenn sie zusammen waren. »Du musst sie unterdrücken«, verkündete Ko.
»Wie bitte?«
»Das hast du mich gelehrt. Die größte Stärke eines Gefangenen liegt darin, seine Angst zu unterdrücken.«
Die Worte schnürten Shan die Kehle zu. Er nickte kaum merklich.
Ko lächelte weiter, aber sein Blick schien sich wieder ins Leere zu richten.
Da erst bemerkte Shan, dass die Aufseher an seiner Seite standen und Ko von dem Stuhl losmachten. »Alles Gute, mein Sohn«, sagte er leise. » Lha gyal lo .«
Als er sich umdrehte, sah er, dass Meng hinten im Raum auf ihn wartete und sie beide beobachtete. Auch sie blieb stumm, während sein Sohn an ihr vorbei in den Korridor geführt wurde. Auf halber Strecke den Gang entlang ertönte plötzlich Kos Stimme. »Donnerdrache!«, rief er. »Großvaters Grille hieß Donnerdrache!« Er geriet ins Stolpern, weil einer der Wärter ihn an der Schulter voranstieß, dann richtete er sich langsam auf und ging weiter.
Shan blickte ihm
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