Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
nach, bis die schwere Metalltür sich hinter seinem Sohn lautstark schloss.
***
Es war Meng, die auf der Rückfahrt ins Tal das lange Schweigen brach. »Er wird es überleben«, sagte sie angespannt. »Ich kann es in seinen Augen sehen. Sie brennen genau wie deine.«
Shan wies auf eine Rebhuhnfamilie, die die Straße überquerte. Er hatte nicht die Kraft, über Gefängnisse und Häftlinge zu reden. Der Besuch bei Ko war schmerzlicher als die meisten anderen gewesen. Er wusste, dass er jede Sekunde davon noch einmal durchleben würde, sobald er das nächste Mal zu schlafen versuchte.
Meng setzte ihn dort ab, wo sie ihn am Morgen aufgelesen hatte, doch als er an Yuans Tür klopfte, machte niemand ihm auf. Er zog in Erwägung, die Kilometer bis zu Lungs Bauernhof zu Fuß zurückzulegen, aber sein Wagen würde noch nicht repariert sein. Am Ende setzte er sich auf eine der Bänke auf dem Platz, genau gegenüber der ehemaligen Statue. Sie war nämlich nicht mehr da, und jemand hatte stattdessen einen kleinen Souvenir-Buddha hingestellt, der auf dem großen steinernen Podest lächerlich winzig wirkte. Allerdings besaß der Buddha einen eigenen Sockel, ein rotes Buch mit Maos Zitaten.
Shan konnte sich nicht entsinnen, wann er sich zuletzt dermaßen machtlos gefühlt hatte. Das Tal, das so lange ein Bollwerk der tibetischen Traditionen gewesen war, befand sich im Niedergang und würde bald zu einer weiteren austauschbaren Gegend mit Internierungslagern und Einwanderersiedlungen werden. Jamyang und die Äbtissin, Lung Ma und der Deutsche waren umsonst gestorben. Nein, sagte eine verzweifelte Stimme, sie waren wegen Peking gestorben, um die Maschine anzutreiben, die Tibet zermahlte.
Er fragte sich nicht länger, wie die Wahrheit lautete, sondern was er mit ihr anfangen sollte. Die Wahrheit zum Vorschein zu bringen fühlte sich für gewöhnlich so an, als würde man ein glänzendes Schmuckstück aus dem Morast holen. Doch diesmal hatte die Wahrheit ihn gepackt und in den Schlamm gezogen. Er erstickte allmählich daran. Ihm stand kein Weg mehr offen. Kein Tibeter würde ihm noch glauben, falls erversuchte, den Killer mit den Morden zu konfrontieren. Shan würde lediglich wie ein verbitterter Knochenfänger wirken, der einen tibetischen Helden verleumden wollte. Er stand auf, lief durch die Straßen und umrundete jeden Häuserblock der kleinen Stadt. Wer ihm begegnete, wandte sich von ihm ab.
Schließlich fand er sich am Nebeneingang des Polizeipostens wieder und setzte sich auf die Stufe. Die Welt um ihn herum stürzte ein. Liang und jene, denen er diente, hatten gewonnen. Shan und Jamyang hatten verloren. Das einzige wirkliche Rätsel war gewesen, wieso er je geglaubt hatte, etwas verändern zu können. Er starrte lange in den Abendhimmel, bis er plötzlich an die Worte seines Sohnes denken musste. Unterdrücke deine Angst. Das ist die größte Stärke, die ein Gefangener haben kann.
Er ging hinein und fand Meng an ihrem Schreibtisch vor, wo sie zwei Dokumente anstarrte. Sie hob eines davon. »Mir wird befohlen, ein Verfahren gegen Professor Yuan und seine Tochter einzuleiten, um ihren Pionierstatus zu widerrufen.«
»Und das heißt?«
»Dass man ihnen eine Gelegenheit geben wird, ihre Loyalität zu beweisen. Im Klartext: Ihnen bleiben zehn Tage, um alle unpatriotischen Aktivitäten zu melden, von denen sie Kenntnis haben. Andernfalls wird ihr Status widerrufen, und man schickt sie zurück, um sie wegen der ursprünglichen Vorwürfe vor Gericht zu stellen. Das bedeutet eine sichere Haftstrafe für das Mädchen.«
Sie schüttelte das Papier und legte es zurück auf den Tisch. »Das wurde mir über den Computer der Öffentlichen Sicherheit zugestellt.« Sie nahm das andere Blatt. »Das hier habe ich in dem alten Faxgerät gefunden. Es steht im vorderen Büro und ist für Nachrichten an die Polizisten gedacht. Ein Haftbefehl für Abt Norbu. Nicht an mich adressiert, sondern an die einheimischen tibetischen Polizisten. Sie sollen sich morgenAbend zusammen mit der Bewaffneten Volkspolizei beim Kloster Chegar einfinden, um die Verhaftung während der abendlichen Zusammenkunft der Mönche vorzunehmen.«
»Wie lauten die Vorwürfe?«
»Politische Betätigung durch einen registrierten Mönch. Organisierung unautorisierter öffentlicher Versammlungen. Verdacht auf Verschwörung gegen die Regierung.«
»Die tibetischen Polizisten«, grübelte er laut. »Hast du dich eigentlich je gefragt, weshalb diejenigen, die diese Hörner
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