Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
»Jede Aussage über diese Welt ist genauso richtig, wie sie falsch ist.« Danach sprach er nie wieder ein Wort.
Über die Relativität der Wahrheit gibt es noch eine schöne Geschichte. Die Erkenntnis, dass jede Wahrheit letztendlich nur den Teilaspekt der absoluten Wahrheit darstellt und dass es so viele Wahrheiten gibt wie Menschen, ist etwas, was jedem Zwillinge-betonten Menschen in die Wiege gelegt worden ist. In unserer Geschichte treffen zehn Blinde auf einen Elefanten. Jeder bekommt einen anderen Teil von ihm zu fassen, einer den Rüssel und der andere ein Ohr, ein dritter ein Bein, und jeder betastet das, was er in die Hände bekommen hat. Als sie sich hinterher zusammensetzen, um darüber zu diskutieren, wie der Elefant nun beschaffen ist, sagt derjenige, der den Rüssel erwischt hat: »Ich kann es euch ganz genau sagen, der Elefant ist ein langes und dünnes Ding.« Der Zweite beschreibt den Elefanten wie das Ohr, das er befühlt hat, der Dritte wie das Bein, das er berührt hat, usw. Daraus entsteht ein Streit, der damit endet, dass sich alle gegenseitig totschlagen. Das ist eine Art von Dummheit, die Zwillinge heilen kann. Ein Zwillinge-betonter Mensch hat die Aufgabe, dumme Einseitigkeiten, Entweder-oder-Haltungen, die zu so vielen unnötigen Kämpfen und Kriegen führen, durch die Weisheit des Sowohl-als-auch in Frage zu stellen und auf diese Weise Dialogfähigkeit, Kompromissbereitschaft und geistige Toleranz in die Welt zu bringen.
Die Leichtigkeit
Zwillinge gehört wie Waage und Wassermann zu den Luftzeichen. Der Luftwelt entspricht die Haltung des distanzierten Beobachters. Luft ist das einzige Element, das keine eigene Richtung hat, das sich neutral verhält; Erde und Wasser ziehen nach unten, Feuer steigt nach oben. Ein Leitmotiv für den Luftmenschen ist der neutrale, objektive, distanzierte Beobachter, der, wie Oskar Adler sagt, einen Logenplatz im Wirklichkeitstheater hat, Zeuge ist, nicht verstrickt und involviert in die Gefühlswelt wie der Wassermensch, auch nicht wie der Erdmensch angetreten, um zu handeln und Spuren zu hinterlassen. Seine Aufgabe ist es, Wirklichkeit zu benennen, Sprache und Begriffe für sie zu finden. Um den Unterschied zwischen Luft-und Erdwelt zu verdeutlichen, könnte man ein Gleichnis von Lao-tse verwenden: »Dreißig Speichen gehen auf ein Rad, aber das Leere zwischen ihnen macht das Wesen eines Rades aus.«
Um das Phänomen Rad zu begreifen, würde ein Erdmensch den materiellen Aspekt sehen, das, was sich anfassen lässt. Der Luftmensch hingegen würde sagen: »Bevor so ein Rad konstruiert wurde, muss es als Idee im Kopf des Erfinders vorhanden gewesen sein.« Diese Welt der Ideen, der Gedanken ist die Realität des Luftmenschen. Ich denke, also bin ich. Dazu gehört auch die Fähigkeit, die Welt als große Komödie zu sehen. Ein englischer Lord hat einmal gesagt: »Dem denkenden Menschen ist die Welt eine Komödie, dem fühlenden eine Tragödie.«
Luft ist das leichteste der vier Elemente, und deshalb ordnet man ihr auch das Temperament des Sanguinikers zu (die Erdzeichen Stier, Jungfrau, Steinbock entsprechen demnach dem Melancholiker, die Feuerzeichen Widder, Löwe und Schütze dem Choleriker und die Wasserzeichen Krebs, Skorpion und Fische dem Phlegmatiker). Leichtigkeit ist in unserem Kulturkreis nicht einfach zu leben, denn bei uns wird Ernsthaftigkeit, Anstrengung, Leistung im Allgemeinen wesentlich mehr geachtet als die »unerträgliche Leichtigkeit des Seins«. Schmetterlings-Menschen genießen bei uns keinen guten Ruf; sie gelten als leichtlebige Luftikusse – dabei ist der Schmetterling nun mal zum Fliegen geboren. Er ist nicht dazu da, auf einer Blume sitzen zu bleiben und auf ihr eine Burg zu bauen (dieses Thema hatten wir beim vorangegangenen Zeichen Stier). Er soll dazu beitragen, die Welt bunter und leichter zu machen. Die Erfüllung dieser Mission ist Zwillinge-betonten Menschen hierzulande noch nie leicht gemacht worden, besonders Frauen nicht, weil das Frauen-und Mutterbild in unserer Tradition eine ganz andere Prägung hat, da wird eine zuverlässige, verantwortungsbereite Form von Mütterlichkeit erwartet. Auf den Vorwurf, ein »leichtes Mädchen« zu sein, könnte man fragen, was denn an »schweren Mädchen« besser sei? Für die vielen Zwillinge-betonten Menschen bei uns, die deshalb mit einem schlechten Gewissen herumlaufen, ist es besonders wichtig, sich im Laufe ihres Lebens von ihren Schuldgefühlen zu
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