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Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)

Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)

Titel: Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Riemann
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befreien.

Polarität
    Polaritäten sind für unser Denken wesentlich. Gäbe es kein Dunkel, wüssten wir nicht, was Helligkeit ist, gäbe es nichts Kleines, wüssten wir nicht, was Größe ist. Beide Pole zusammen bilden die menschliche Existenz, hell-dunkel, männlich-weiblich, Yang und Yin, wie auch immer wir sie nennen mögen. Das Bewusstsein dieser ganz einfachen Wahrheit ist uns allerdings vielfach verloren gegangen.
    In Mythen und Märchen drückt sich Polarität oft in Zwillingspaaren, in Brüderoder Schwesternpaaren oder auch in zwei ungleichen Gestalten aus, die die ganze Geschichte hindurch aufeinander bezogen bleiben. Ein paar Beispiele dazu: In der griechischen Mythologie gibt es die Geschichte von Kastor und Polydeukes, einem Zwillingspaar. Beide waren Söhne der Leda, aber der Vater von Polydeukes war Zeus, und damit war dieser ein Göttersohn und unsterblich; sein Bruder Kastor war der Sohn des Königs Tyndareos, ein Menschensohn also und deshalb sterblich. Bei einem Kampf, den die beiden Brüder gegen die Apharetiden, ein anderes Zwillingspaar, ausfechten müssen, stirbt Kastor, und Polydeukes ist darüber so untröstlich, dass er seinen Vater Zeus bittet, wieder mit seinem Bruder vereint leben zu dürfen. Das wird ihnen gestattet, aber unter einer Bedingung: Sie müssen ihr Leben abwechselnd im Olymp und im Hades verbringen, einen Tag in der oberen, einen Tag in der unteren Welt.
    Das erinnert an den Atmungsvorgang: einatmen nach oben, in die Welt des Geistes, des Olymps, der Helligkeit, des Lichts, und ausatmen in die Tiefe, in die Dunkelheit des Hades, in das Reich des Unbewussten, das Reich des Urweiblichen. In beiden Welten zu Hause zu sein und diese Welten immer wieder miteinander zu verbinden ist ein zentrales Zwillinge-Motiv. Auf den Menschen übertragen bedeutet der Mythos von Kastor und Polydeukes, dass wir sterblich und unsterblich zugleich sind. Wir alle haben dieses Zwillingspaar in uns, denn wir bewohnen einen sterblichen Körper und haben eine unsterbliche Seele.
    Es gibt auch einen Typus von Zwillings-, Schwesternoder Brüderpaaren, bei denen vereinfacht gesagt einer das Gute und einer das Böse vertritt: Kain und Abel, Romulus und Remus, Goldmarie und Pechmarie. Aufgrund unserer Schwarz-Weiß-Moral neigen wir dazu, das so genannte Böse zu bestrafen, und gerade in den Grimmschen Märchen kommt zum Beispiel die Hexe zum Schluss so gut wie immer zu Tode. Dieser Triumph des »Guten« ist zugleich tragisch, denn ohne Hexe, ohne die dunklen Gestalten wäre im Märchen überhaupt keine Entwicklung möglich. Auf diese Problematik werde ich im Skorpion-Kapitel noch ausführlicher eingehen. In dem Zusammenhang ist es sehr weise, was ein erfolgreich therapierter Patient seinem Analytiker zum Abschied sagte: »Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir meine Teufel ausgetrieben haben, ich fürchte nur, Sie haben mir damit auch meine Engel ausgetrieben!«
    In unserer Kultur gibt es seit Jahrtausenden eine Spaltung, die besonders für Frauen dramatisch ist. Das große Weibliche ist aufgespalten in zwei Pole: Maria und Hexe. In unserer Religion haben wir nur die weiße Frau Maria zugelassen, nur die Marienkinder; die Hexe bzw. Hexenmädchen haben darin keinen Platz. Dabei ist die Hexe wie jeder Archetyp gutböse. Zwar nicht in Grimmschen Märchen, aber zum Beispiel in russischen Märchen. Dort kann die Urhexe Baba Jaga sowohl Leben retten, eine gute Heilerin und Ratgeberin sein als auch gefährlich werden, wenn man sie schlecht behandelt.
    Die Überwindung dieser Spaltung in eine helle und eine dunkle Welt, in Maria und Hexe, in männlich und weiblich ist die Aufgabe der Zwillinge. Ihre Weisheit ist die des Sowohl-als-auch. Dass es sich oft nur um scheinbare Gegensätze handelt, zeigt die Weisheit der Sprache: So bedeutet das deutsche Wort »hell« im Englischen »Hölle«. In jedem Menschen gibt es Kain und Abel, Goldmarie und Pechmarie, Romulus und Remus, Maria und Hexe, wir alle sind gutböse. Wir wachsen oft mit dem unerreichbaren Ideal auf, reine, gute Lichtwesen sein zu müssen, doch je mehr wir uns dem Licht zuwenden, desto stärker wachsen im Unbewussten der Schatten und das Monster. Im Märchen sieht das oft so aus: Eine Gestalt, die ganz brav, hold und edel ist, gerät unter die Räuber oder in die Fänge des Drachens, und gerade wenn diese Gestalt besonders edel und licht dargestellt wird, muss man nur umblättern, und schon kommt ein entsprechend dunkles Ungeheuer daher. Je reiner der Held

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