Der Tiger im Brunnen
Umgangsformen – respektvoll nur gegenüber Mr Lee, Parrish würdigte er keines Blickes.
Er setzte sich und hörte aufmerksam zu, als Mr Lee erläuterte, was er von ihm erwarte.
»Eine Frau mit Namen Lockhart – Miss Sally Lockhart – hält sich vermutlich im East End versteckt. Bei ihr ist ein zweijähriges Mädchen namens Harriet. Sie, Bushell, sollen beide ausfindig machen. Die Frau ist blond, hübsch, Anfang zwanzig und dürfte nur über sehr wenig Geld verfügen. Sie wird bereits steckbrieflich gesucht; aus der Zeitung hier neben Ihnen auf dem Tisch erfahren Sie, weshalb. Miranda, noch eine Nuss …«
Der Affe sprang sogleich zu der Schale mit den Nüssen, griff eine Walnuss heraus und schob sie Mr Lee in den Mund. Währenddessen las der Stellvertretende Polizeidirektor die gleichen Zeilen, die Sally tags zuvor in der Times entdeckt hatte.
Nach beendeter Lektüre faltete Mr Bushell die Zeitung wieder sorgfältig zusammen.
»Mir persönlich ist der Vorgang nicht zu Ohren gekommen. Als Beamter in leitender Stellung befasse ich mich nicht mit solchen Routinefällen. Es wäre überdies auch recht schwierig, Interesse an solchen Vorfällen zu zeigen, ohne zugleich unnötig Aufmerksamkeit zu erregen …«
»Tun Sie es dennoch«, sagte Mr Lee trocken. »Finden Sie irgendeinen passenden Vorwand. Andernfalls sähe ich mich gezwungen, Ihrem Vorgesetzten – und der Presse – Informationen über Ihren Verkehr in einschlägigen Häusern zuzuspielen. Ich verfüge über eine Liste mit Einzelheiten zu jedem Ihrer Besuche. Sie enthält Angaben über Zeiten, Zahlungen, Geldbeträge, die sie gewonnen oder verloren haben, und die Namen der Damen, mit denen sie zusammen gewesen sind. – Sie wussten, dass Sie einen Preis zu zahlen haben würden, Bushell. Hier ist er: Mobilisieren Sie möglichst viele Ihrer Männer für diesen Fall und finden Sie die Frau.«
Mr Bushell, der mit der fernöstlichen Kunst der Willensbeherrschung nicht vertraut war, sackte sichtlich in sich zusammen. Er nickte nur, seufzte und wandte sich dann zum Gehen.
»Noch etwas«, sagte Mr Lee, ehe sein Besuch die Tür erreicht hatte. »Irgendwo in Soho ist ein Mann, der sich Goldberg nennt – ein Journalist. Mir ist zu Ohren gekommen, dass er das Privileg, in diesem Land Gast zu sein, dazu missbraucht, seine Nase in die legalen Geschäfte anderer Leute zu stecken. Aus schlichtem Anstand und aus Patriotismus sollte man herausfinden, wo sich dieser Schurke aufhält und was er treibt. Anschließend müsste man das Innenministerium informieren, damit er an Österreich-Ungarn ausgeliefert werden kann, denn dort liegt ein Todesurteil gegen ihn vor. Die zuständigen Stellen wären sicher hocherfreut, ihn wieder im Land zu haben. Würden Sie sich bitte darum kümmern?«
Der Orden der Sanctissima Sophia
Mr Parrish pflegte zahlreiche Kontakte zur Unterwelt, so dass er in kürzester Zeit alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, um die Suche nach Sally voranzutreiben. Er ging dabei wissenschaftlich vor und stützte sich auf Abner T. Handleys grundlegendes Werk: Erfolg im Geschäftsleben. Ein Leitfaden für den aufstrebenden jungen Mann. Handley widmete sich ausgiebig den Themen Umsicht und Erfindungsreichtum. Mr Parrish bildete sich ein, gerade in diesen Bereichen neue Maßstäbe gesetzt zu haben, hatte er doch für Hinweise auf Sallys Aufenthaltsort eine Belohnung von fünfzig Pfund in Aussicht gestellt. Das Geld stammte von Sallys Konto. War es nicht in höchstem Maße ökonomisch, das Wild für die Hetzjagd bezahlen zu lassen?
Zur selben Zeit wies der Stellvertretende Polizeidirektor Bushell die Leiter der Distrikte Whitechapel, Steppney und Themse an, so viele Männer wie möglich für die Suche nach Sally einzusetzen. Die ihnen zur Verfügung stehenden Polizeikräfte beliefen sich auf 1235 Mann, und obgleich sich die leitenden Beamten privat über den ungewöhnlichen und ungerechtfertigten Aufwand wunderten, den der alte Herr da trieb, wo er doch eigentlich bei Scotland Yard mit Papieren rascheln und Zigarren rauchen sollte, waren sie alle darauf aus, durch das Ergreifen der Gesuchten einen guten Eindruck zu machen.
So kehrten sie zu ihren Einheiten zurück und stellten ein Gutteil der 1235 Mann für die Suche ab.
Der Stellvertretende Polizeidirektor Bushell vergaß auch Goldberg nicht. Was ausländische Aufwiegler betraf, ob Sozialisten, wie im vorliegenden Fall, oder Kommunisten und Anarchisten, so hatte er dafür einen Agenten, der ihm schon
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