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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Pence. Eine Dreiviertelstunde nachdem sie die Sozialmission verlassen hatte, ging Sally, auf der Suche nach dem Orden der Sanctissima Sophia, die Rolfe Road hinunter. Es war eine ruhige Vorstadtstraße, deren Häuser ein wenig abgeschieden lagen und von großzügigen Gärten umgeben waren. Sie hatte keine genaue Vorstellung, wonach sie Ausschau halten sollte, bis sie wenig später an einer Pforte ein Schild entdeckte:
     
    Der allerhöchste und heilige Orden der Emanation der segensreichen und gnadenvollen Sanctissima Sophia
     
    Das Haus war in tadellosem Zustand und auch der Garten machte einen gepflegten, wenn auch etwas kargen Eindruck. Sally zog an der Glocke und nach einer Minute öffnete ihr ein hagerer Mann, der das Gewand eines katholischen Geistlichen trug.
    »Guten Tag«, sagte sie. »Ich möchte gern zu Mr Beech.«
    Der Mann machte eine etwas gequälte Miene.
    »Mr Beech ist … ja, er ist im Haus. Erwartet er Ihren Besuch?«
    »Nein, aber wenn er mich sieht, wird er wissen, wer ich bin. Mein Name ist Lockhart.«
    Sie sprach in möglichst liebenswürdigem Ton. Mit dem leicht grotesk wirkenden Goldmedaillon an der Halskette und dem Amethystring am Finger machte der Mann einen seltsam peniblen und etwas engstirnigen Eindruck. Sally befürchtete schon, dass man ihr wieder die Tür vor der Nase zuschlagen würde, doch da schien er seine Bedenken überwunden zu haben und ließ sie eintreten.
    »Warten Sie bitte hier im Flur«, sagte er.
    Dunkle, imposante Möbel, alle tadellos sauber und poliert; der Geruch von Weihrauch lag in der Luft; alles hatte einen unpersönlichen Anstrich. Der Geistliche wies verlegen auf einen Stuhl und verschwand dann nach oben.
    Sally setzte sich und wartete. Abgesehen von Weihrauchgeruch und Anstaltsatmosphäre, deutete nichts darauf hin, dass dieses Haus der Sitz des Ordens der Sanctissima Sophia war, was immer das auch sein mochte.
    Fünf Minuten vergingen, dann hörte sie jemanden die Treppe herunterkommen. Auf dem Absatz angekommen, wandte er sich zu ihr um: ein dünner, ältlich aussehender Mann mit fahler Gesichtsfarbe, ebenso gekleidet wie derjenige, der sie ins Haus geführt hatte. Auch er trug ein Goldmedaillon an einer Halskette.
    »Mr Beech?«, fragte Sally.
    »Ja, der bin ich«, antwortete er. »Ich kenne Sie leider nicht, Miss Lockhart, und wüsste nicht, womit ich Ihnen dienen könnte.«
    »Waren Sie nicht früher einmal Pfarrer der Gemeinde St. Thomas in Portsmouth?«
    »Das war ich, aber seit geraumer Zeit schon – «
    Die Stimme versagte ihm. Sally schaute ihn beunruhigt an, denn er machte den Eindruck, als würde er jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. Er musste plötzlich gemerkt haben, wen er vor sich hatte.
    Sally hatte nicht die Absicht, ihm zu helfen. Sie beobachtete, wie er sich zu einem Stuhl schleppte. Erst sah es so aus, als wollte er sich setzen, doch dann hielt er sich nur an der Rückenlehne fest und blieb stehen.
    »Kommen Sie bitte mit in die Bibliothek«, brachte er mit einer Stimme hervor, die im Grunde nicht mehr als ein Flüstern war.
    Er öffnete ihr die Tür. Der Raum, in den sie traten, verdiente kaum die Bezeichnung Bibliothek; ein Tisch, Stühle, ein paar Bücherregale und über dem Kaminaufsatz ein Gemälde in symbolistischer Manier. Es zeigte Gestalten im Strahlenkranz und mit verzückten Gesichtern.
    Sally setzte sich, während er die Tür schloss.
    »Sie wissen, warum ich hergekommen bin.«
    »Ja.«
    »Sie haben ein Heiratsregister gefälscht, so dass es den Anschein hat, als sei ich mit einem Mr Parrish verheiratet.«
    »Ich … Ja.«
    Er stand mit wackligen Beinen am Tisch und nestelte an seinem Medaillon herum. Im helleren Licht der Bibliothek erkannte Sally, dass es nicht aus Gold, sondern nur aus Messing war. Es zeigte die undeutlichen Konturen einer weiblichen Gestalt, umgeben von Strahlen, so dass man den Eindruck gewann, das Licht ginge von ihr aus.
    »Was stellt das dar?«, fragte Sally nach einem Augenblick des Schweigens.
    »Es ist das Sinnbild der Sanctissima Sophia, der Heiligsten Weisheit.«
    »Und was ist das für ein Orden, dem Sie angehören?«
    »Eine Schar von … Eingeweihten, die sich dem Studium und der Verbreitung der Heiligen Weisheit verschrieben haben.«
    »Und diese Heilige Weisheit, inwiefern unterscheidet die sich von der allgemein bekannten?«
    »Sie … Nun, das Ganze hat selbstverständlich eine esoterische Seite, die ich jetzt nicht … Es gibt verschiedene Stufen der Einweihung … Es ist ein

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