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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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früher gute Dienste geleistet hatte. Er ließ ihn zu Scotland Yard kommen und hieß ihn, sein Augenmerk ganz besonders auf diesen politischen Schurken zu legen. Sobald er ihn aufgespürt hatte, sollte er ihm Meldung machen.
    Sally begleitete an diesem Morgen wieder Miss Robbins. Diesmal besuchten sie eine Familie von Zündholzmachern. Miss Robbins sammelte Materialien für einen Bericht über die sozialen Missstände im East End.
    Sally ging mit, weil sie das Elend der Ausbeutung mit eigenen Augen sehen wollte.
    Es war eine fünfköpfige Familie: Vater, Mutter, zwei Töchter im jugendlichen Alter und ein kranker siebenjähriger Junge wohnten und arbeiteten in einem kaum acht auf drei Meter großen Zimmer. Der Junge lag auf einer Matratze in einer Ecke und atmete schwer. Alle anderen arbeiteten um einen Tisch herum, auf den trübes Licht durch das einzige Fenster fiel. Ein Geruch von Schweiß, Kleister, Fisch und Krankheit hing in der stickigen Luft. Die Hände der am Tisch Stehenden waren unentwegt damit beschäftigt, Hölzer und Streifen phosphorroten Papiers zusammenzukleben, sie zum Trocknen auf die Seite zu legen und anschließend in Schachteln zu verpacken. Eine der beiden Töchter, ein aufgewecktes Mädchen, das einen rebellischen Charakter zu haben schien, band fertige Schachteln zu Bündeln zusammen. Der Vater sagte, die Fabrik zahle ihnen zweieinviertel Pence für ein Dutzend fertiger Zündholzschachteln. Sally konnte das nicht glauben, aber Miss Robbins bestätigte das Gesagte. Darüber hinaus mussten sie Schnur und Kleister noch selbst bezahlen. Obwohl sie den ganzen Tag über und bis tief in die Nacht hinein arbeiteten, verdienten sie gerade so viel, dass sie nicht verhungerten.
    »Dabei schuftet diese Familie noch nicht einmal für einen Ausbeutungsbetrieb«, erklärte Miss Robbins, als sie wieder im Freien standen. »Denn in gewisser Weise arbeiten sie ja für sich und nicht für einen Subunternehmer, dem die Arbeitsstätte gehört und der die Arbeit nach seinen Erfordernissen einteilt. Doch auch hier läuft alles auf Ausbeutung hinaus, in diesem Fall durch die Zündholzfabrik. Das aufgeweckte Mädchen wird, nebenbei bemerkt, seine Familie bald verlassen. Sie hat sich schon von einer Frau, die ein Bordell in der Devonshire Street betreibt, einwickeln lassen. Sie wird dort schneller Geld verdienen und dann an einer Krankheit sterben.«
    »Das können Sie doch nicht mit dieser Gewissheit sagen«, entgegnete Sally, weil sie sich verpflichtet fühlte, einen Schimmer Hoffnung dagegenzusetzen.
    »Vielleicht nicht. Vielleicht verliebt sich ja ein gutherziger Gentleman mit fünfhundert Pfund Rente im Jahr in das arme Kind und heiratet es. Vielleicht kommt auch ein Engel auf die Erde herab und fährt mit ihr geradewegs in den Himmel hinauf. Vielleicht kommt sie auch unter die Räder eines Omnibusses. Das Schicksal eines Individuums kann ich nicht vorhersagen. Unbestreitbar ist hingegen, dass es in tausend anderen Heimarbeiterfamilien ebenso hübsche Mädchen gibt, die genauso aufgeweckt und mit ihrem Los unzufrieden sind, und von diesen Mädchen werden viele so enden, wie ich es gerade beschrieben habe. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«
    Sally wusste nichts zu erwidern. Das Elend, das sie gesehen hatte, ließ sie verstummen, und so wandte sie sich den Dingen zu, von denen sie etwas verstand, Geld, Gewinne und Kosten. Sie fragte sich, wie vielen Klienten sie empfohlen hatte, Aktien der Zündholzfabrikanten Bryant & May zu kaufen. Schlimmer noch – sie selbst hatte einige besessen.
     
    Zurück in der Sozialmission warteten drei Briefe auf sie. Sie fand aber erst Zeit, die Post anzuschauen, nachdem sie in der Küche geholfen und Suppe und Brot an die im Haus aufgenommenen Frauen und Kinder ausgeteilt hatte. Ein Herr mit dunklem Haar habe die Briefe vorbeigebracht, mehr wusste die Hausgehilfin nicht zu berichten. Sally steckte sie in ihre Tasche, um sie später zu lesen. Ihr Herz schlug schneller, als sie die kraftvolle Handschrift auf einem der Kuverts erkannte.
    Nachdem Harriet gegessen hatte, der Tisch abgeräumt und das Geschirr gespült war, brachte Sally das Mädchen zum Mittagsschlaf ins Bett. Die Kleine klammerte sich an ihre Mutter und schien etwas Fieber zu haben. Sally machte sich Sorgen und schmuste ein bisschen mit ihr, ehe sie sie ins Bett legte und zudeckte.
    Erst dann holte sie im grauen Nachmittagslicht die Briefe hervor. Sie erkannte Sarah-Janes Handschrift, öffnete den Umschlag

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