Der Tiger im Brunnen
er nicht mehr sagen wollen. Er hatte Angst, dass man ihm sonst die Droge nicht mehr liefern würde. Irgendetwas an dieser Opiumgeschichte ließ in Sally die Alarmglocken läuten. Die Nackenhaare sträubten sich ihr, doch sie wusste nicht, warum.
Den ersten Teil des Abends kümmerte sie sich um Harriet und spielte ein wenig mit ihr. Daneben half sie das Brot für das gemeinsame Abendessen aller Hausbewohner aufzuschneiden. Harriet war inzwischen wirklich krank. Sie hatte leichtes Fieber und hielt es bei keinem Spiel lange aus, ohne unleidlich und weinerlich zu werden. Sally machte sich Sorgen und war hin und her gerissen zwischen ihrer Mutterliebe und dem Bewusstsein, dass es unter den Kindern hier ungleich größeres Leid gab.
In einem freien Augenblick ging sie in die Apotheke hinüber, um Frau Dr. Turner wegen Harriets Fieber um Rat zu fragen. Zu ihrer Bestürzung fand sie die Ärztin allein und in Tränen.
»Ach, es ist zu dumm – aber es ist einfach stärker als ich – es überkommt mich immer so – wann werden wir endlich so weit sein, die Verhältnisse wirklich zu verändern?«
Sally nahm sie in die Arme und ließ sie sich ausweinen. Wie sie nach und nach erfuhr, war eine Frau mit offener Tuberkulose in die Sozialmission gekommen und Frau Dr. Turner hatte sie wieder wegschicken müssen. Die Frau hätte ins nahe gelegene London Hospital in der Whitechapel Road gehen sollen, doch das hatte sie abgelehnt.
»Die Kranken wissen nur zu gut, dass das einem Todesurteil gleichkommt – wer dort hingeht, kommt nicht mehr lebend heraus, sagen alle. Sie flehte mich an, doch hierbleiben zu dürfen, aber das ging nicht; die Krankheit würde sich hier in Windeseile ausbreiten. Sicherlich wird sie nun die Nacht draußen verbringen müssen …«
Sally verstand, warum Frau Dr. Turner weinte. Sie wirkte dabei so ehrlich und stark, dass auch Sally die Tränen kamen beim Gedanken an den kleinen Johnny, an die tuberkulosekranke Frau, an all die verpfuschten Leben. Und ihre eigenen Sorgen und Ängste flossen mit ein in diesen Ozean des Leids und des Unglücks, dessen Wellen bis an die Tür der Sozialmission schlugen.
»Ich bin hier zu nichts nütze«, sagte Sally.
Sie schauten sich an, beide mit geröteten Augen und verheulten Gesichtern. Die Ärztin schüttelte den Kopf. Dann setzte sie sich aufrecht, schnäuzte sich und seufzte.
»Gehen wir und hören Jack Burton heute Abend sprechen«, schlug sie vor. »Er wird uns beide aufmuntern.«
»Wer ist das?«, fragte Sally.
»Ein Mann aus den Docks. Er versucht alle Schauerleute in einer großen Gewerkschaft zu organisieren, die dann allen Arbeitern helfen kann. Wenn sie nicht zusammenhalten, können sie so leicht ausgebeutet werden. Jack Burton gelingt es mit seinen hinreißenden Reden, die Menschen zu begeistern. Ich jubele dann immer innerlich und plötzlich scheint mir alles möglich – komm doch mit, Sally! Darf ich dich duzen? Ich heiße Angela.«
»Ich würde gerne mitkommen, sehr gerne sogar. Für mich ist das eine ganz neue Welt. Ich hatte ja vorher keine Ahnung, dass so etwas überhaupt existiert, dass es solches Elend gibt wie das der Zündholzmacher von heute Morgen, aber … Ich mache mir Sorgen um Harriet. Sie hat leichtes Fieber, deshalb möchte ich lieber nicht ausgehen. Zudem wollte heute Abend noch jemand vorbeikommen und mich sprechen. Wegen der Sache mit Harriet, weißt du. Ich werde dir bald mehr darüber erzählen. Ich habe heute etwas herausgefunden und ich glaube, ich bin auf der richtigen Spur.«
»Dann ein andermal? Sally, ich kann dir gar nicht sagen, wie viel Kraft, vergeudetes Talent und wie viel Fantasie es unter den Arbeitern gibt. Alles, was wir an Menschen bewundern – Intelligenz, Mut, Führungskraft und Weitblick –, all das findet man bei Arbeitern und Arbeiterinnen. Sie brauchen keine bürgerlichen Wohltäter wie mich! Alles, was sie brauchen, ist eine Chance …«
»Mein Gott, Angela, sie respektieren dich doch nicht, weil du aus dem Bürgertum kommst, sie schätzen dich um deiner selbst willen. Du bist Ärztin – wie viele deiner Kollegen sind bereit, hier zu arbeiten? Denk einmal daran, wie wertvoll du hier bist. Und du hast als Frau in einem Männerberuf hart kämpfen müssen. Die Leute wissen, dass man einen starken Willen braucht, um das zu schaffen. Du weißt, wie wichtig deine Arbeit ist. Und du weißt auch, dass du deine Arbeit gut machst. Lass nicht zu, dass die da oben den Stolz für sich pachten. Auch du hast allen
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