Der Tiger im Brunnen
Grund, stolz zu sein.«
»Die da oben?«
»Der Feind. Die Vermögenden, die Haus- und Fabrikbesitzer.«
»Die Kapitalisten?«
»Ja, mich eingeschlossen, ich weiß. Aber ich gehöre nicht zu dieser Sorte da, das wird mir jeden Tag aufs Neue bewusst.« Angela nickte, schnäuzte sich nochmals und lächelte plötzlich wieder, wenngleich ihre Augen noch gerötet waren.
»Was wohl der kleinen Harriet fehlt?«, sagte sie. »Na, schaun wir mal.«
Bill war ins Schwitzen geraten. Der Melamed Mr Kipnis musste irgendeinen Zaubertrank genommen haben, denn er legte eine ungewohnte Energie an den Tag und paukte mit Bill auf der Basis von Webb, Millington und Co.’s Neuem illustriertem Lesebuch (besonders stabile Ausführung für das erste Lesealter).
»Das habe ich speziell für dich gekauft«, sagte er nun schon zum zehnten Mal, seit sie miteinander bekannt waren. »Bin dafür eigens in die Farrington Road gegangen und habe Stunden gebraucht, bis ich es aufgestöbert hatte. Hat mich drei Pence gekostet. Da steckt viel drin in diesem Buch. So, nun streng dich an. Nächstes Bild, den Dingsda, den Vogel.«
Mit zittrigem Finger hatte er das Buch aufgeschlagen. Bill sah das Bild einer Eule und legte die Stirn in Falten, während er versuchte, die Wörter darunter zu lesen.
»Die … das ist ’ne Eule, nicht? Die Eule nistet in alten, alten … Das da kann ich nicht lesen, Mr Kipnis.«
»Na, lass mal sehn.« Der alte Mann schielte kurz auf den Text.
»Gemäuern, Jüngelchen. Schau, es geht los mit einem großen G, dann ein e, dann ein m und nun, aufgepasst, ein Doppellaut, dann wieder ein e, dann ein r und zum Schluss ein n. So, und jetzt du.«
»Gemäuern und in ho… hohlen Bäumen.« Nach jedem Punkt fühlte Bill sich erleichtert, denn es bedeutete, dass er wieder ein Stück weitergekommen war. Die kurzen Wörter bereiteten ihm mittlerweile schon keine Schwierigkeiten mehr:
Durch sie konnte er auf den Text blicken wie durch viele kleine Fenster ins Innere eines Hauses. Und mit jedem Tag kam mehr Licht in das Haus, so dass ihm nach und nach auch die schwierigen Wörter vertrauter wurden. Immer häufiger gelang es Bill, ihre Bedeutung zu erraten. Nicht mehr lange, dann würde er sich an das Kommunistische Manifest heranwagen. »Ihre Beute sind … junge … Hasen, Kaninchen – schauen Sie, Mr Kipnis, hier auf der Seite, das sollen doch Kaninchen sein, nicht?«
»Richtig, Jüngelchen. Nur weiter so. Ist ein schlaues Buch. Steckt viel Weisheit drin. Aber jetzt was anderes …«
Mr Kipnis schaute sich verstohlen um. Sie waren in der Pension in der Dean Street, Goldberg war ausgegangen. Der Melamed bedeutete Bill, näher heranzurücken, beugte sich vor und sagte leise zu ihm: »Ich hab da was läuten hören. Sag Mr Goldberg, die Polizjanten suchen ihn. Er soll eine Weile untertauchen. Sie sind hinter ihm her, das habe ich gehört. Sag ihm das, ja?«
»Die Polypen? Weshalb denn?«
»Woher, bitte schön, soll ich das wissen? Aber er soll sich lieber dünnemachen. Besser, man hält sich raus und läuft weg, statt in einen Schlamassel zu geraten.«
»Aber angenommen, er will gar nicht weglaufen?«
»Das, mein Jüngelchen, war immer noch das Beste, was wir Jidden machen konnten. Wir sind nirgendwo willkommen. Wir müssen still sein und uns so gut wie möglich aus allem heraushalten, mehr können wir nicht tun. Sicher, in Jerusalem wäre das anders. In Eretz Jsrael. Aber das werden wir nicht mehr erleben.« Er tat einen langen, tiefen Seufzer; seine alten Augen waren feucht geworden. Dann tastete Mr Kipnis nach dem Flachmann in seiner Jackentasche und deutete mit dem Kinn auf das Buch. »Aber jetzt weiter, Jüngelchen. Wir waren bei dem Vogel da stehengeblieben.«
Stirnrunzelnd beugte sich Bill wieder über das Buch. Weglaufen – sich aus allem heraushalten – das passte nicht zu Goldberg. Auch nicht zu Kid Mendel. Es musste auch Juden geben, die nicht wegliefen. Was würde die große Bridie Sullivan vom Lambeth Walk wohl von ihm denken, wenn er sich umdrehen würde und wegliefe? Sie hatte Burschen wie Liam, mit denen sie ihn vergleichen konnte.
»Und vergiss nicht, ihm zu sagen, was ich gehört habe«, mahnte ihn Mr Kipnis.
»Geht klar, Mr Kipnis. Aber der wird nicht weglaufen. Sie werden sehn. Ihre Beute sind … junge Hasen, Kaninchen, Ratten, Mäuse und Vögel. Sie … jagt nach Einbruch der … Dunkelheit …«
Gegen acht Uhr am Abend desselben Tages kam die Hausgehilfin an die Tür des Büros, in dem
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