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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Werden Sie vor Gericht aussagen, dass sie vorsätzlich einen falschen Eintrag ins Heiratsregister gemacht haben?«
    »Man kann mich nicht dazu zwingen … Es ist mit meinem Wirken im Orden der Sanctissima Sophia nicht vereinbar, einem Kreuzverhör vor Gericht unterzogen zu werden.«
    »Na schön. Wollen Sie dann eine eidesstattliche Erklärung desselben Inhalts unterschreiben?«
    »Das kann ich nicht. Es schickt sich nicht für einen Geistlichen, sich durch einen weltlichen Eid zu binden …«
    »Mr Beech hat Ihnen seine Position klargemacht«, sagte der andere Mann. »Durch Drohungen werden Sie nichts erreichen. Ich muss Sie bitten, jetzt zu gehen – «
    Damit machte er einen Schritt auf sie zu und verzweifelt sagte Sally: »Ich werde Mr Beech nicht mehr drängen. Ich werde ihn auch nicht mehr auffordern, vor Gericht auszusagen. Er kann hier unbehelligt weiterleben. Aber er wird doch einsehen, dass ich wissen muss, warum das alles! Warum haben Sie das getan, Mr Beech? War es Parrish, der Sie dazu gezwungen hat, oder jemand anderes? Was hat er Ihnen getan, dass Sie das Heiratsregister gefälscht haben?«
    »Nein, er war es nicht! Ich kenne keinen Parrish!«
    »Sie haben einem Geistlichen in Clapham einen Brief geschrieben, in dem Sie ihm Mr Parrish empfohlen haben. Sie müssen ihn gekannt haben.«
    »Ich war krank!«
    »Wer war es, der Sie vor drei Jahren gezwungen hat zu unterschreiben?«
    Alle drei standen jetzt, keiner rührte sich. Schließlich überkam Mr Beech ein Zittern und er brach in Tränen aus. Seine Schultern zuckten krampfhaft, dicke Tränen rollten ihm übers Gesicht. Hilflos suchte er sie mit der bloßen Hand abzuwischen. Der andere Mann brachte ihn hinaus; Sally hörte Beech mit schleppenden Schritten nach oben gehen.
    Der Geistliche schloss die Tür wieder.
    »Ich weiß nicht, was in seinem Fall das Beste wäre«, sagte er bedrückt. »Mr Beech ist unserem Orden vor noch nicht allzu langer Zeit beigetreten. Er untersteht wie alle anderen Mitbrüder den Ordensregeln, die ausschließen, dass ein Bruder etwas preisgeben muss, was er lieber für sich behalten würde … Aber in diesem Fall ist eine weitere Person betroffen, nämlich Sie, und wenn ich richtig verstanden habe, ist außerdem noch ein Kind in Gefahr. Das macht die Sache kompliziert.«
    Er schaute auf die kitschigen Bilder über dem Kamin, als fände er dort eine Inspiration.
    »Immerhin kann ich Ihnen Folgendes sagen. Er hat es mir nicht im Beichtstuhl anvertraut und ich betrachte es nicht als großes Geheimnis, denn der Hausmeister und der Gärtnerssohn wissen es ebenfalls. Außerdem ist es besser, Sie erfahren es von mir als von jemand anderem. Mr Beech hat lange Jahre an einem Übel gelitten, das er sich als junger Mann zugezogen hatte. Bei seinem Eintritt in den Orden sagte er mir, er sei mittlerweile davon geheilt, doch zu meinem Leidwesen habe ich feststellen müssen, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Über den Hausmeister und den Sohn des Gärtners bekam er immer wieder heimlich Päckchen. Ich vermute, dass der Absender dieser Päckchen derselbe ist, der ihn gezwungen hat, das zu tun, was Ihnen solchen Kummer bereitet hat – dieselbe Person, die ihn immer noch an der Kandare hat.«
    »Immer noch?«
    »Ja. Mr Beech ist unglücklicherweise immer noch ein Opfer, und ich fürchte, in seinem Alter …«
    »Aber woran leidet er denn? Und wie kann diese Krankheit anderen die Gelegenheit geben, ihn in ihre Macht zu bringen?«
    »Oh, entschuldigen Sie bitte, ich hätte mich deutlicher ausdrücken sollen. Mr Beech ist das Opfer von Rauschgift geworden, er ist opiumsüchtig.«
     
    Opium …
    Sally schauderte, als sie das hörte. Sie wusste aus eigener Erfahrung, was Opium mit einem Menschen machen konnte, und verstand jetzt die seltsame Zurückhaltung, die Nicholas Bedwell in seinem Brief gezeigt hatte: Sein Zwillingsbruder war nämlich ebenso wie Mr Beech dieser Droge verfallen gewesen.
    Also war es Erpressung: Unterschreibe dieses Register oder wir sagen aller Welt, dass du opiumsüchtig bist. Und Beech hatte sich, durch die jahrelange Sucht willensschwach geworden, für die Fälschung hergegeben. Der ganze Hokuspokus um die Sanctissima Sophia war nur der Versuch, seine Schuld hinter mystischen Schleiern zu verbergen. Wie viele andere kleine Vergehen hatte er sich zu Schulden kommen lassen, wie viele andere Lügen hatte er sich erlaubt?
    Offenbar versorgte man ihn immer noch mit der Droge. Das war wichtig zu wissen. Deswegen hatte

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