Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
ihn zu deinem Anwalt erklärt hast, kann er dich wegen der Sache im Teesalon – du weißt, als du deinen Revolver gezückt hast – gegen Kaution freibekommen, er kann für Harriet eine Amtsvormundschaft beantragen, so dass sie erst einmal vor Parrish sicher wäre, und er kann sich alle Unterlagen von deinem früheren Anwalt besorgen und den Fall noch einmal neu aufrollen. Solange du dich nicht stellst, kann er gar nichts unternehmen.«
    Sally stand auf und ging zum Fenster. Von dort hatte man einen Blick über die ganze Straße, doch abgesehen vom spärlichen Schein der Gaslaternen war es draußen stockdunkel. Gegen Abend herrschte in Whitechapel normalerweise – zumindest in den großen Straßen – reges Treiben. Auf den Märkten und in den Kneipen florierte das Geschäft. Doch das hier war eine ruhige Straße, auf der sich um diese Stunde kaum jemand aufhielt.
    Sally legte die Stirn an die kühle Fensterscheibe. Ein wirklich fähiger Anwalt könnte diesem ganzen Spuk vielleicht ein Ende setzen. Gelänge es ihm, Parrishs Klage abzuschmettern, wäre Harriet in Sicherheit, sie würde ihr Geld zurückbekommen und die Firma wäre gerettet.
    Doch tief in der Dunkelheit lauerte der Zaddik, die Wurzel allen Übels. Wenn Parrish aus dem Feld geschlagen wäre, bliebe das ohne Auswirkungen auf den Zaddik, es würde nicht den leisesten Hinweis auf eine Verbindung zu Parrish geben. Mehr noch, durch diese Vorgänge gewarnt, würde er sich womöglich noch weiter zurückziehen.
    Aus dem Dunkel aber könnte er einen neuen Angriff starten. Und wie die jetzige Intrige wäre gewiss auch die nächste wieder so sorgfältig und von langer Hand vorbereitet, dass der Schlag vermutlich tödlich wäre.
    Vielleicht war irgendwo da draußen schon eine weitere Falle aufgestellt für den Fall, dass die erste nicht wie geplant funktionierte. In Anbetracht der Gründlichkeit, mit der er diese hier arrangiert hatte, wäre es erstaunlich, wenn er nicht an eine solche Eventualität gedacht hätte. Vielleicht war ihr ganzes Leben schon von Dutzenden ähnlicher Fallen umgeben, die alle ebenso teuflisch genial ausgeheckt und ebenso tödlich waren und auf Geheiß zuschnappten.
    Nein, ihren Kampf musste sie allein mit dem Zaddik ausfechten, und die beste Aussicht auf Sieg hatte sie dabei, wenn sie im Verborgenen blieb und Parrish weiter wüten ließ.
    Wenn es nur um ihren Besitz gegangen wäre, hätte sie keinen weiteren Gedanken mehr darauf verschwendet. Aber da war noch Margaret; und wenn sie einmal herausfinden würden, wo Harriet war …
    Sally drehte sich um und wollte schon sagen, sie wisse nicht recht – vielleicht hätte sie Margaret von der Existenz des Zaddik erzählt –, doch bevor sie etwas sagen konnte, ging die Tür auf und vor ihr stand Goldberg.
    Sally sah Goldberg an und schaute dann zu Margaret hinüber. Deren Miene konnte sie in etwa entnehmen, welchen Ausdruck ihr eigenes Gesicht haben musste. Sie geriet in die größte Verwirrung und errötete, wie nie zuvor in ihrem Leben.
    Goldberg verbeugte sich höflich vor Margaret.
    »Guten Abend«, sagte er. »Ihr Anwalt Mr Wentworth ist ein fähiger Mann. Ich habe mit ihm gesprochen. Doch davon später. Miss Lockhart, Sie werden jetzt gebraucht. Unten am Fluss. Ist das Kind hier in Sicherheit? Dann kommen Sie bitte. Miss Haddow …«
    Eine weitere Verbeugung, dann ging er hinaus; die Tür ließ er offen. Mit einem hilflosen Blick auf Margaret folgte sie ihm.

 
Rebekkas Geschichte
     
     
    Sie gingen die Royal Mint Street Richtung Tower hinunter. Goldberg war in Eile und schien besorgt. Auf ihre Fragen gab er nur die knappe Auskunft: »Wir gehen auf ein Schiff. Ich erklären Ihnen alles, wenn wir an Bord sind.«
    Auf den Straßen herrschte dichter Verkehr, auf den Gehwegen wimmelte es von Fußgängern. Er nahm ihren Arm, als habe er das Recht dazu, und ging mit raschen Schritten neben ihr her. Sie spürte die Spannung und die Kraft, die in ihm war: In seinem ganzen Wesen lag etwas Unnachgiebiges. Auch sie spürte eine seltsame Spannung in sich, doch warum dieses Gefühl so stark war und was es zu bedeuten hatte, blieb ihr ein Rätsel.
    Sie gingen hinab in Richtung Fluss. Die dunkle Kulisse des Londoner Towers ragte rechts vor ihnen auf. Ehe die Straße unten eine Biegung nach links machte, konnte man eine Treppe erkennen, die zum Wasser führte.
    Bevor sie hinunterstiegen, blieb er stehen und zeigte auf die Tore zu den Docks.
    »Sehen Sie die vielen Droschken dort?«, sagte er. »Und

Weitere Kostenlose Bücher