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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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komplexes Lehrgebäude, das letztlich um die Idee der Erlösung durch, durch … Wissen kreist. Es ist eine sehr alte Lehre … Gnostik.«
    »Ich verstehe. Wenn man die richtigen Dinge weiß, kommt man in den Himmel. Das Gegenteil davon, nämlich, bestimmte Dinge nicht zu wissen, das ist die Hölle, Mr Beech. Ich wusste zum Beispiel drei Jahre lang nicht, dass ich mit Mr Parrish verheiratet war. Gehört das auch zu dem geheimen Wissen, dem Sie sich verschrieben haben?«
    »Miss Lockhart, bitte erlauben Sie mir, Ihnen zu erklären …«
    »Eben deswegen bin ich ja gekommen.«
    Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. Seine Haut war schlaff und gelblich. Er sah aus, als habe er eine schwere Krankheit hinter sich. Laut Crockfords Klerikerverzeichnis sollte er Anfang fünfzig sein, doch hätte man ihn eher für einen achtzigjährigen Greis gehalten. Seine Augen waren wässrig und blutunterlaufen. Noch nie hatte sie in einem Menschen so viel Schuld, Schwäche und Elend gesehen. Und auch eine gewisse Verbohrtheit, die sie gar nicht mochte.
    »Also?«, sagte sie.
    »Es war zu einer Zeit, als ich aus gesundheitlichen Gründen nicht völlig Herr meiner selbst war«, begann er. Er suchte ihre Augen und schaute dann sofort wieder weg. »In jungen Jahren war ich als Missionar in den Tropen und habe mir dort ein … äh, Leiden zugezogen, das mich hin und wieder … äh … in meinem Urteilsvermögen einschränkt. Der Vorgang, um den es geht und den ich sehr bedauere, fiel in eine solche Phase.«
    »Warum haben Sie das getan?«
    »Ich habe es Ihnen bereits erklärt. In solchen Phasen bin ich nicht Herr meiner selbst … Es war ein Fehltritt, eine Entgleisung, wie ich offen zugebe.«
    »Ich habe Sie nach dem Grund gefragt. Warum haben Sie das getan? Hat er Sie dazu gezwungen?«
    »Wer?«
    »Parrish natürlich.«
    »Nach all den Jahren ist das schwer zu sagen … Aber bitte glauben Sie mir, ich habe damals nicht aus Böswilligkeit gehandelt. Mir war nicht klar, dass hinter diesem Namen eine reale Person stand … Ich hatte den Eindruck, dass es sich um einen Scherz handelte …«
    »Oh, lassen Sie die Lügen, Mr Beech. Wissen Sie eigentlich, was Sie da angerichtet haben?«
    »Bitte, Miss Lockhart, bitte sprechen Sie nicht so laut …«
    »Ich habe eine Tochter. Ja, ein uneheliches Kind, aber es gehört mir und ich liebe es. Der Vater des Kindes lebt nicht mehr. Von Mr Parrish wusste ich nichts, bis mir eines Tages ein gerichtliches Schreiben überbracht wurde, worin es hieß, er beantrage die Scheidung und verlange das Sorgerecht für meine Tochter. Mit dieser schamlosen Lüge konnte er sich nur vorwagen, weil Sie drei Jahre zuvor einen falschen Eintrag ins Heiratsregister von St. Thomas gemacht haben. Seit ich dies mit eigenen Augen gesehen habe, bin ich auf der Suche nach Ihnen. Jetzt, wo ich Sie endlich gefunden habe, werden Sie mir vor Gericht für diesen falschen Eintrag geradestehen müssen. Sie sind der einzige Mensch, der mit absoluter Sicherheit bezeugen kann, dass Parrish damals nicht die Ehe mit mir eingegangen ist. Wenn Sie …«
    Sie brach ab, als sie sah, dass er den Kopf schüttelte. Sie sah ihm fest in die Augen, bis er den Blick senkte.
    »Sie werden es tun müssen«, wiederholte sie.
    »Nein, das kann ich nicht.«
    »Warum? Warum tun Sie mir das an? Meine Tochter – Sie wollen zulassen, dass ein wildfremder Mann mir meine Tochter wegnimmt? Warum?«
    Er schluckte mehrmals, versuchte zu sprechen und machte Anstalten aufzustehen. Sie griff über den Tisch und bekam ihn am Handgelenk zu fassen. Sie spürte wohl, wie grob sie den schwächlichen Mann behandelte, und wäre sogar bereit gewesen, ihm die dünnen Knochen zu brechen, wenn sie dadurch ihrem Ziel näher gekommen wäre.
    »Bitte, Sie tun mir weh – «
    »Warum haben Sie das getan? Womit erpresst er Sie? Warum wollen Sie nicht zugeben, dass es nicht wahr ist?«
    »Ich kann nicht – so darf man mit mir nicht reden – «
    Die Tür ging auf. Mr Beech schaute sich um wie ein Schuljunge, den man ertappt hat.
    »Darf ich fragen, was dieses merkwürdige Verhalten zu bedeuten hat?«, fragte der Mann, der Sally hereingelassen hatte.
    Sally ließ Mr Beechs Hand los, worauf er keuchend, mit bebender Unterlippe und feuchten Augen zurücksank.
    »Ich versuche gerade Mr Beech davon zu überzeugen, einen Schritt zu tun, von dem er weiß, das er der Wahrheit dient. Er hat mir schweres Unrecht zugefügt und damit mein Kind in Gefahr gebracht.

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