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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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die Leute drum herum?«
    Sally konnte erkennen, dass die Straße verstopft war. Ein Polizist bemühte sich vergebens, die Kutscher dazu zu bringen, ihre Droschken in einer Reihe aufzustellen. Überall hörte man Leute schreien und streiten. Sie erinnerten an Geier, die sich um ein Stück Aas balgten. Das sagte Sally zu Goldberg.
    »Genau das sind sie auch«, bestätigte Goldberg. »Sie warten nur darauf, sich auf die Juden zu stürzen, die mit dem nächsten Schiff ankommen. Die ersten Boote werden bald landen, beeilen wir uns.«
    Er ließ ihr den Vortritt. Die Treppe wurde nur von einer schwachen Gaslaterne beleuchtet, die an der Ecke eines Lagerhauses stand; die Stufen waren nass und rutschig. Sie nahm Goldbergs Hand.
    Unten an der Treppe wartete ein Mann in einem Ruderboot. Er hatte eine altmodische Hornlaterne, die er in die Höhe hielt, als sie auf ihn zukamen. Sally sah einen graubärtigen Alten, dem eine unverwüstliche Munterkeit im Gesicht geschrieben stand.
    »’n Abend, Mr G«, grüßte der Seemann.
    »’n Abend, Charlie. Wir wollen einen Passagier abholen und an Land bringen.«
    »Geht in Ordnung.«
    Der alte Mann hielt das Boot im Gleichgewicht, während Sally einstieg. Goldberg setzte sich mit ihr ins Heck, während der Mann die Laterne an einem Stock am Bug befestigte und die Ruder in die Hand nahm.
    »Wo haben die Werber ihren Platz?«, fragte Goldberg.
    »In der Nähe von Pier Head, am St.-Katherine-Hafenbecken. Dort werden sechzig, siebzig Leute ankommen, vielleicht noch mehr. Sie werden am Pier Head abgesetzt und können dann geradewegs Richtung Lower Thames Street gehen. Haben Sie die vielen Droschken gesehen? Die Kutscher haben in den letzten Monaten spitzgekriegt, dass sich hier gute Geschäfte machen lassen. Mittlerweile steht sogar ein Polizist da, um den Verkehr zu regeln. Letzte Woche waren es fast hundert Droschken.«
    Er stieß vom Ufer ab, legte die Ruder in die Dollen und begann mit kurzen, lockeren Schlägen zu rudern.
    »Was sind das für Werber?«, fragte Sally.
    »Schmarotzer«, stieß Goldberg hervor, »miese kleine Betrüger. Das Gesindel, das Sie an Geier erinnert hat.«
    Ihre Stimmen klangen hier auf dem Wasser ganz anders als auf der von hohen Backsteinbauten gesäumten Straße.
    »Diese Kutscher sind die Schlimmsten von allen. Da sind diese armen Leute gerade angekommen, manche haben eine Adresse, sprechen aber kein Englisch, dann wiederholen sie die Adresse so oft, bis der Fahrer sie versteht, und weg sind sie. Manche Kutscher fahren sie ans andere Ende der Stadt nach Walthamstow, Leyton oder Wanstead Flats und verlangen dafür ein Vermögen. Davon gibt’s heute Abend jede Menge, das Schiff kommt nämlich aus Rotterdam. Um die aus Hamburg reißen sich die Kutscher nicht, um die kümmern sich die Ausbeuterbetriebe, die nach Greenhorns Ausschau halten.«
    »Diese Sprache ist mir neu«, musste Sally zugeben. »Was sind denn Greenhorns?«
    »Junge Burschen, die völlig ahnungslos hier ankommen und bereit sind, jede Arbeit anzunehmen.«
    Die Nacht war still, das Wasser glänzte wie ölige Seide. Das Boot glitt sanft über die Wellen, und wäre nicht der regelmäßige Ruderschlag gewesen, hätte man meinen können, der nach Gin riechende alte Mann wäre eingenickt. Goldberg saß still neben Sally auf der Bank. Sie hatte den Eindruck zu schweben – zwischen Himmel und Wasser, Vergangenheit und Zukunft, Gefahr und … ja was? Sie schaute Goldberg an und fragte sich, was er unter der breiten Krempe seines Hutes wohl für ein Gesicht machte.
    »Wozu haben Sie mich mitgenommen?«, fragte sie ihn. »Soll ich etwas Bestimmtes tun?«
    Er nickte. »Auf dem Schiff befindet sich eine junge Jüdin aus Russland. Sie weiß Neues über den Zaddik und ich möchte es so bald wie möglich erfahren. Wir müssen uns beeilen. Auf dem Dampfer werden auch Frauen sein, die es auf solche allein reisenden Mädchen abgesehen haben. Sie erinnern sich sicherlich, was ich Ihnen über sie erzählt habe. Sie sprechen Jiddisch, Russisch und Deutsch und geben vor, für jüdische Wohlfahrtsvereine zu arbeiten, oder erfinden sonst etwas, damit ihnen die Mädchen auf den Leim gehen.«
    »Die Ostware?«, sagte Sally.
    Er nickte. »Wir müssen Rebekka Meyer finden – so heißt sie –, damit sie nicht in die Fänge dieser Frauen gerät. Das Problem ist nur, dass sie davon ausgeht, von einer Frau in Empfang genommen zu werden. Wenn Sie sie finden, sollten Sie bei ihr bleiben, bis ich komme und sie beide wieder

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