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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Kein Dienstbote bekam eine Anstellung ohne Referenzen, ohne ein Zeugnis seiner vorherigen Herrschaften.
    »Ich war zuletzt bei Lord und Lady Islip in Stellung. Wenn der Herr dieses Hauses sich erkundigen will, werden sie ihm ein Zeugnis übersenden. Es ist meine Schuld, das Zeugnis nicht bei mir zu haben, aber alle meine Unterlagen sind bei einem Brand verloren gegangen. Nur weil ich schon vorher mit der Agentur zu tun hatte und man mich dort kannte, hat man mich hierhergeschickt …«
    »Lord und Lady Islip«, wiederholte er und machte sich eine Notiz. »Adresse?«
    Sally nannte sie ihm. Lord Islip war der ältere Bruder von Charles Bertram, Webster Garlands Partner. Sally war sich sicher, dass er das Spiel mitspielen würde, aber das bedeutete, dass sie ihm gleich morgen früh schreiben oder telegrafieren musste. Das Problem würde sie zur rechten Zeit schon lösen, jetzt musste sie sich vor allem bescheiden und hilfsbereit zeigen.
    Mrs Wilson berichtete dem Butler von Sallys Französischkenntnissen. Mr Clegg nickte.
    »Könnte von Nutzen sein«, sagte er. »Nun gut, du bist jetzt hier. Foster« – und damit deutete er auf das Mädchen mit dem Tablett – »wird dich nach dem Abendessen auf dein Zimmer bringen. Übrigens, wir nehmen unser Abendessen erst ein, nachdem die persönliche Dienerschaft des Herrn gegessen hat. Wir müssen also warten, was ohne Zweifel den Charakter stärkt. Wichtigste Regel in diesem Haus: Komm nicht in die Nähe des Herrn, es sei denn, er lässt persönlich nach dir schicken. Für alle seine Bedürfnisse und Wünsche ist Mr Michelet, sein Leibdiener, zuständig. Alle anfallenden Hausarbeiten – Putzen und dergleichen – müssen erledigt werden, wenn er nicht anwesend ist. Wenn nach dir geschickt wird, wenn du auf ein Klingelzeichen oder Ähnliches antwortest, klopfst du nicht an und trittst ein, sondern klopfst an und wartest. Mr Michelet wird dich in die Einzelheiten dieses Reglements einweisen. Denke daran: Der Herr will dich nicht sehen. Er ist ein Gentleman, der eine große Bürde zu tragen hat – Mrs Wilson dürfte es dir bereits gesagt haben. Er hat ein schweres Leiden. Vermeide alles, was ihn unnötig belasten könnte.«
    Sally nickte und machte eine ehrfürchtig-ergebene Miene.
    »Und du sprichst also Französisch? Schön, schön. Mr Michelet wird sich sicherlich gern mal mit dir unterhalten.«
    Sie wusste nicht, wie sie diese Bemerkung deuten sollte. Sie nahm es als weiteres Beispiel für die Spannung zwischen dem Hauspersonal und dem Gefolge des Zaddik.
    Das Abendessen war ein karges Mahl, das ihnen von der Küchenmagd und dem jüngsten Diener serviert wurde. Insgesamt gab es elf Bedienstete. Obgleich sie sich ihr gegenüber ein wenig förmlich und distanziert verhielten, schienen sie es doch alle ehrlich zu meinen. Sie wussten oder sagten zumindest nichts über die Geschäfte Mr Lees. Was Sally erfahren konnte, war lediglich, dass er viel auf Reisen war und sich alle drei Monate hier in London aufhielt.
    Nach und nach wurden die Beziehungen zwischen dem Hauspersonal und den übrigen Dienern deutlich. Für die Zeiten, in denen Mr Lee im Haus war, übernahm der Leibdiener das private Wohnzimmer des Butlers, der dann mit den übrigen Dienstboten in der Küche sitzen musste. Das, so schien Sally, war der Grund für das steife Verhalten der Dienstboten. Mr Clegg hatte so etwas Finsteres, Strenges an sich, dass kein entspanntes Verhältnis zu ihm möglich war, selbst wenn er sich bemühte freundlich zu sein. Das andere Hausmädchen flüsterte Sally zu, er sei zu schrecklichen Wutanfällen fähig. Man tue gut daran, das nicht zu vergessen, wenn man mit ihm rede.
    Über die ungeschriebenen Regeln der Dienstboten untereinander wusste Sally wenig. Immer wieder schärfte sie sich ein, allen gegenüber vorsichtig, bescheiden und demütig zu sein. Sie schien damit Erfolg zu haben; die anderen kümmerten sich wenig um sie, einmal abgesehen davon, dass die Männer ungenierte Blicke auf ihre Figur warfen. Wenn sie als Gast in dieses Haus gekommen wäre, hätten sich die Diener niemals erlaubt, sie so anzustarren.
    Nach dem Abendessen erfuhr sie dann mehr. Das andere Hausmädchen, Eliza Foster, brachte sie in das gemeinsame Zimmer unter dem Dach, um für sie eine passende Tracht aus der Wäschekommode zu holen.
    Eliza war ein schlichtes, etwas pummeliges Mädchen mit Sommersprossen. Kaum waren sie aus der Küche, flüsterte Eliza, eine Kerze in der Hand, Sally zu: »Nimm dich vor dem

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