Der Tiger im Brunnen
schon setzt es ein Donnerwetter. Also, du putzt erst im Speisezimmer, dann im Salon. Ich übernehme die Bibliothek und den Hausflur und dann machen wir zusammen die oberen Etagen. Frühstück um halb acht.«
Sally hatte aus vier Öfen die Asche vom Vortag gekehrt und neues Feuer gemacht, dann durfte sie sich mit den übrigen Dienstboten an den Frühstückstisch setzen. Sie fühlte sich müde und schmutzig, da sie sich nur mit kaltem Wasser hatte waschen können. Immerhin hatte sie Zeit gehabt, über den nächsten Schritt nachzudenken.
Bei Haferbrei und Tee sagte sie leise zu Mrs Wilson: »Ach bitte, Mrs Wilson, dürfte ich Sie um einen Gefallen bitten? Ich weiß, ich bin noch keinen Tag hier, aber es ist wegen meiner Mama – ich habe ihr versprochen, gleich Bescheid zu geben, sobald ich eine neue Anstellung habe. Sie wartet auf ein bisschen Geld von mir. Wenn Sie mir fünf Minuten geben, kann ich meinen Brief vor der Leerung um halb neun noch einwerfen. Ich arbeite die Zeit auch nach, Madame …«
Mrs Wilson schaute argwöhnisch. Sally fürchtete schon, sie würde sagen, jemand anderes könne den Brief aufgeben, doch dann nickte sie kurz und murmelte etwas wie: »Lass dich nicht von Mr Clegg erwischen. Du nimmst es auf deine Kappe.«
»Danke, Mrs Wilson«, sagte Sally.
Sie schlang den Haferbrei hinunter, der recht schmackhaft, wenn auch etwas dünn war, und wartete, bis Mr Clegg den Raum verlassen hatte. Im Haus herrschte ein Kommen und Gehen, da das Frühstück nicht so streng gehandhabt wurde wie das Abendessen. Daher gelangte Sally unbemerkt nach draußen. Binnen fünf Minuten war sie durch den Regen zum Postamt um die Ecke gerannt. Und wieder hatte sie Glück. Hier konnten nicht nur Telegramme aufgegeben werden, es gab auch keine Warteschlange vor dem Schalter. Das Formular war rasch ausgefüllt.
UNBEDINGT POSITIVE ANTWORT AUF DEMNÄCHST EINTREFFENDE ANFRAGE NACH REFERENZ FÜR LOUISA KEMP GEBEN STOP SCHRECKLICH WICHTIG STOP ERKLÄRE ALLES SPÄTER STOP SALLY LOCKHART.
Sally gab das Formular ab, zahlte die Gebühr und lief zum Haus am Fournier Square zurück.
Blieb das andere Problem: Was tun, wenn das Mädchen von der Agentur Pethick’s auftauchte? Nun, da gab es keine andere Möglichkeit, als offen zu bekennen. Sally wartete im Hausflur, bis sie den Leibdiener allein im Salon wusste, dann schlüpfte sie hinein und schloss die Tür hinter sich.
»Was sind das für neue Sitten – ah! Louisa. Aber du darfst um diese Zeit nicht mehr hier sein.«
Sie legte den Finger auf die Lippen. Seine Augen glänzten, er kam näher. So sanft wie möglich sagte sie: »Monsieur?«
»Vous parlez français? Mais – «
»Nur ein bisschen. Bitte, Monsieur Michelet, können Sie mir helfen?«
Sally blickte ihn von unten herauf an, verführerisch, wie sie hoffte. Er kam noch näher. Sie konnte sein Eau de Cologne riechen.
»Ich sollte eigentlich gar nicht hier arbeiten. Es stimmt nicht, dass die Agentur Pethick’s mich geschickt hat. Ich war bloß zufällig dort, als Ihre Anfrage hereinkam. Ich war so verzweifelt, deshalb bin ich gestern Abend hergekommen. Es hieß, sie würden heute jemanden vorbeischicken. Ein anderes Hausmädchen. Ich weiß nicht, was ich machen soll …«
»Ah … Du willst also, dass ich die andere wieder wegschicke?«
Sie blickte zu ihm auf, schlug scheu die Augen nieder und sah dann erneut zu ihm auf. Er leckte sich die Lippen. Dann strich er ihr mit dem Finger über die Wange.
»Tja, Louisa. Für das Hauspersonal bin eigentlich nicht ich zuständig. Das dürfte schwierig werden. Dennoch …«
»Ich werde es Ihnen auch bestimmt vergelten, Monsieur.«
»Ja«, sagte er, »das wirst du sicherlich.«
Er fuhr ihr mit der Hand langsam an den Hinterkopf und kraulte ihr kurz geschorenes Haar. Dann zog er sie an sich – da ertönte plötzlich ein Schrei von der Zimmerdecke.
Sie zuckte zusammen und schaute nach oben. Fluchend ließ Mr Michelet von ihr ab. Vom Stuckgesims zum Schrank, von dort zum Bücherregal und weiter zum Kamin hüpfte der Affe, von dem sie bereits gehört hatte. Er stieß schrille, hasserfüllte Laute aus und knirschte mit den gelben Zähnen. Er sprang – schwang sich weiter – sprang erneut – und hielt dabei ein kleines braunes Bündel in der Hand -
Michelet griff in die Höhe und schnappte ihn aus der Luft, wie ein Kricketspieler einen Ball fängt.
Sogleich wurde der Affe still und lag reglos in seiner Hand, als wollte er sich tot stellen. Das Bündel, das er mit sich
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