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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Leibdiener in Acht, er ist ein Schurke.«
    »Warum? Was tut er denn?«
    »Überall im Haus hat er seine Hände im Spiel. Und nicht nur die Hände. Deswegen musste Lucy gehen.«
    »Das Hausmädchen, für das ich gekommen bin? Sie soll getrunken haben, hat mir Mrs Wilson gesagt.«
    »Natürlich hat sie dir nicht geradeheraus gesagt, warum sie tatsächlich gehen musste.«
    Sie waren auf der Hintertreppe im ersten Stock angelangt. Eliza blieb stehen und lauschte. Ihre Pupillen weiteten sich, sie legte einen Finger an die Lippen. »Pst! Da kommt er gerade …«
    Unten war eine Tür aufgegangen und jemand kam mit einer Lampe in der Hand die Treppe herauf. Eliza ging rasch weiter nach oben, doch da erschallte bereits eine Stimme hinter ihnen.
    »Ah! Wer ist da?«
    Eliza hielt inne. Sally spürte, wie unwillig das Mädchen sich umwandte und wartete, bis der Mann zu ihnen heraufgekommen war. Sally blickte schüchtern zu Boden, als sie gefragt wurde: »Und wie heißt du?«
    »Louisa Kemp, Sir«, antwortete sie.
    »Oh! Nicht Sir! Mr Michelet«, sagte er. »Oder noch besser: Monsieur Michelet. Schau mich mal an, mein Kind.«
    Sie hob die Augen. Sein feistes Gesicht trug gierige Züge, die ihm etwas Raubvogelhaftes gaben. Er streckte ihr die Hand entgegen und Sally schüttelte sie. Er aber ließ ihre Hand nicht los, sondern führte sie nahe an sein Gesicht.
    »Sanftes Händchen«, sagte er mit Kennermiene. »Du bist also das neue Hausmädchen?«
    »Ja, ich war vorher bei einer Dame in Stellung, S –, äh, Mr Michelet.«
    »Soso. Sehr sanftes Händchen. Sehr hübsches Gesicht. Ja, Louisa, es freut mich, deine Bekanntschaft gemacht zu haben. Wir werden noch miteinander plaudern, hoffe ich.«
    »Ja, Mr Michelet.«
    Noch immer hielt er ihre Hand. Als er sie endlich losließ, machte sie eine kleine Verbeugung, die man für den missglückten Knicks eines verschämten Mädchens halten sollte.
    »Komm«, sagte Eliza.
    Sally folgte ihr und spürte den Blick des Leibdieners bis zum nächsten Treppenabsatz auf sich ruhen.
    Oben im Dienstmädchenzimmer angekommen, einem engen Dachstübchen mit zwei Betten und einer Kommode, vergewisserte sich Eliza erst, dass er ihnen nicht nachgeschlichen war. Dann sagte sie: »Ich hasse ihn. Einzig und allein weil ich nicht so hübsch bin wie du oder Lucy, ist er nicht weiter gegangen, als mich zu betatschen. Arme Lucy – wo sie jetzt wohl sein mag …«
    »Was ist denn passiert?«
    »Na, das Übliche. Ich habe sie gewarnt, wirklich. Nun kriegt sie ein Kind, und was wird sie mit dem Bankert machen? Ins Findelhaus geben. Und wie soll sie ohne Zeugnis eine neue Anstellung bekommen? Aber du darfst ihm keinen Korb geben, das ist das Schlimme. Er würde zu Mr Lee gehen, und ehe du dich versiehst, sitzt du auf der Straße. Es ist ein Glück, wenn er nicht im Haus ist.«
    »Wie sieht Mr Lee eigentlich aus?«
    »Ich kriege eine Gänsehaut, wenn ich ihn nur sehe. Wie er so dasitzt und vor sich hin starrt. Aber ich bekomme ihn kaum zu Gesicht. Am liebsten würde er uns ja wegsperren, wenn er im Haus ist. Bedauernswerter Mann, schlimm, gelähmt zu sein. Und bei allem, beim Waschen, Ankleiden und so weiter, ist er auf diesen Missjöö angewiesen. Wirklich, vor dem muss man sich in Acht nehmen.«
    Damit war klar, dass Sallys Weg zum Zaddik nur über Michelet führen konnte. Ein Schritt nach dem anderen, sagte sie sich, während sie zitternd unter der dünnen Bettdecke lag. Sie kam sich vor wie ein Soldat auf dem Feldzug; wie der Mann, bei dem sie aufgewachsen war und den sie für ihren Vater gehalten hatte. Nach außen kühl bleiben, auch wenn man im Innern brennt. Halte dein Pulver trocken. Das war sein Wahlspruch gewesen.
     
    Sally schlief traumlos und wachte sofort auf, als Eliza sie um sechs Uhr früh an der Schulter rüttelte. Die Kleidung, die sie tragen sollte, war ihr ein bisschen zu weit, doch wenn sie die Schürze etwas enger band, mochte es gehen.
    »Wir müssen im ganzen Haus die Öfen anheizen«, sagte Eliza. »Ist ja in anderen Häusern auch so üblich, nur dass er alle den ganzen Tag über brennen lässt. Eine unglaubliche Verschwendung an Kohle. Gerade hat er sich diesen neuen Aufzug einbauen lassen, damit er mit dem Rollstuhl jedes Stockwerk erreichen kann. Glaubst du, er würde einen Lastenaufzug für den Kohlentransport einbauen lassen? Kein Gedanke daran. Wir müssen alles die Treppe raufschleppen wie gehabt. Und danach überall wienern. Er ist ja so pingelig, ein bisschen Staub irgendwo und

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