Der Tiger im Brunnen
machte wieder einen Knicks und wandte sich zum Gehen. In diesem Moment drehte sich der Mann am Fenster um und sie blickte in die Augen von Arthur Parrish.
Er reagierte nicht, abgesehen davon, dass er automatisch einen Blick auf ihren Körper warf. Dann schaute er wieder weg, ohne sie weiter zu beachten. Sally schaffte es, ohne zu zittern, das Zimmer zu verlassen.
Es klappt, sagte sie sich triumphierend. Sie erkennen mich nicht.
Entweder lag es an den Haaren oder an der Hausmädchentracht oder an beidem. Vielleicht war es auch die Tatsache, dass sie hier wohl am allerwenigsten mit ihr rechneten.
Sally jubelte innerlich, als sie in die Küche zurückkehrte. Und sie dachte an Parrishs Blick. Als ich eine feine junge Dame war, dachte sie, wagte niemand, mich so ungeniert anzuschauen. Jetzt, wo ich ein Hausmädchen bin, tun es alle …
Mrs Wilson war in der Küche, als sie zurückkam. Sie erklärte, Mr Lees Wunsch sei es, den Tee auf dem niedrigen Tisch neben dem Kamin serviert zu bekommen. Der Gast werde ihm dann einschenken.
Als Sally den Tee in die Bibliothek brachte, unterhielten sich die Männer gerade. Sie stellte das Tablett auf dem Tisch ab, ohne von ihnen beachtet zu werden.
Sie machte einen Knicks und hörte Parrish sagen: »Nein, Sir. Leider hat sie sich aus dem Staub gemacht. Wir sind zu spät gekommen.«
»Was war das für ein Haus?«, wollte der Zaddik wissen.
»Irgendeine sozialistische Einrichtung in Whitechapel. Sie ist mit Sicherheit zunächst dort untergetaucht, zusammen mit dem Kind. Aber wir haben mittlerweile eine andere Spur. Die Juden …«
Sally musste einfach zuhören, auch wenn sie fürchtete, das Zittern ihrer Hände könnte sie verraten. Wieder draußen, legte sie ein Ohr an die Tür, doch sie hörte nur undeutliches Gemurmel. Dann kamen Mr Cleggs Schritte näher und sie musste wieder in die Küche zurückgehen.
James Wentworth klopfte an die Tür des Büros am Bengal Court. Cicely Corrigan, die zögernd öffnete, seufzte bei seinem Anblick erleichtert und ließ ihn eintreten.
»Miss Haddow!«, rief sie. »Es ist der Rechtsanwalt – Mr Wentworth. – Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie dann, zu ihm gewandt, »aber bei uns geht heute alles drunter und drüber …«
»Kommen Sie doch, Mr Wentworth«, sagte Margaret, und der Anwalt ging hinkend zu ihrem Schreibtisch, nachdem er Cicely Hut und Mantel gereicht hatte.
Margaret schenkte ihm eine Tasse Tee ein, ohne vorher zu fragen, ob er überhaupt welchen wollte. Er sah blass aus und setzte sich mühsam hin, als ob ihm alle Glieder schmerzten.
»Ja, es hat einen ganzen Tag gebraucht«, begann er, »aber mir ist es gelungen, sie vorerst aufzuhalten. Die technischen Einzelheiten erspare ich Ihnen, nur so viel: Sie können wieder Schecks auf ihr Konto ausstellen. Man hat sich darauf verständigt, von Ihnen gezeichnete Schecks einzulösen, vorausgesetzt, dass Sie den Betrag von zwanzig Pfund pro Scheck nicht überschreiten.«
»Dann werde ich als Erstes einmal Ihr Honorar bezahlen«, sagte sie.
»Ich bin mit meiner Arbeit noch nicht fertig«, erwiderte er.
»Ich bezahle Sie Heber jetzt, wo wir noch über Geld verfügen, als später, wenn wir es vielleicht nicht mehr können.« Damit öffnete sie ihr Scheckheft und füllte ein Formular aus. Im Übrigen, so dachte sie, können Sie es brauchen, so wie Sie aussehen.
»Haben Sie eine Ahnung, wo sich Miss Lockhart aufhalten könnte?«, fragte er.
»Nein, ich mache mir große Sorgen um sie. Wissen Sie, dass die Sozialmission Ziel einer Razzia war?«
Er hob die Augenbrauen. »Einer Razzia? Durch wen?«
»Durch die Polizei, heute Morgen. Sie haben das Haus vom Keller bis zum Dachboden durchsucht. Sally war selbstverständlich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr da. Die Frau, die gerade Aufsicht führte, gab nichts preis, gestand aber später mir gegenüber, dass sie selbst gar nicht wisse, wo Sally steckt. Der Aussage der Ärztin nach hat Sally sich die Haare kurz geschnitten und ist dann gegangen. Sie muss also einen anderen Unterschlupf gefunden haben.«
»Ihr Haar kurz geschnitten? Glaubt sie etwa, man würde sie so nicht erkennen? Da muss sie sich aber anstrengen – ich habe erst heute Nachmittag eine sehr gute Fotografie von ihr auf einem Steckbrief vor einer Polizeiwache gesehen. Sie hat sich in große Schwierigkeiten gebracht, Miss Haddow, und ich kann ihr nicht helfen, solange ich kein Mandat von ihr habe.«
»Und sie sich der Polizei stellt.«
»So ist es.«
»Das wird sie
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