Der Tiger im Brunnen
getragen hatte, fiel unbeachtet neben die Wand. Michelet hob ihn langsam und drohend auf Mundhöhe, so, als wollte er ihn beißen. Der Affe hing schlaff wie eine Stoffpuppe in seinem Griff, die Augen geschlossen.
Dann ließ Michelet ihn einfach fallen. Wie eine Katze drehte sich der Affe noch im Sturz und landete auf den Pfoten, dann verzog er sich eilig durch die offene Tür. Im Hausflur konnte man ihn böse zischen hören.
»O Louisa«, sagte Michelet sanft, »du musst ein schlimmes Mädchen sein, dass dich der Affe so sehr hasst! Wie er mit den Zähnen geknirscht hat! Sehr scharfe Zähne, Louisa. Er hätte dich nur zu gern gebissen … Aber ich habe ihn im Griff, er hat Angst vor mir. Sei unbesorgt, Louisa. Man muss grausam sein, dann haben sie Angst.«
Rasch verließ er das Zimmer.
Sally lehnte sich an einen Stuhl und atmete tief durch. Es würde noch schlimmer kommen. Einerlei, sie war auf alles gefasst. Sie schloss erst einmal die Augen, und als sie sie wieder öffnete, sah sie den Gegenstand, den der Affe hatte fallen lassen. Sie bückte sich, um ihn aufzuheben, und hatte plötzlich Harriets Teddybären Bruin in der Hand.
Ein Irrtum war ausgeschlossen. Das linke Ohr war einmal abgegangen. Das war an einem Tag, an dem Sarah gerade frei hatte. Sally hatte das Ohr mit rotem Zwirn wieder angenäht, weil sie nichts Besseres gefunden hatte. Ihr Herz hüpfte vor Freude, als sie ihn wiedererkannte, und sie drückte ihn an ihre Brust. Das war der Beweis … Lees Leute hatten ihn gestohlen … Sie war also auf der richtigen Spur, es stimmte alles – aber warum hatten sie das Spielzeug dem Affen gegeben?
Michelet kam zurück. Sie legte Bruin auf den Boden und Michelet nahm ihn sofort an sich.
»Dieses Spielzeug darf der Affe nicht wieder in die Pfoten bekommen«, sagte er. »Er hasst es. Er wird es noch zerreißen und das würde Mr Lee gar nicht gefallen. Gut, dass es jetzt in Sicherheit ist, nicht wahr?«
Damit verließ er den Raum.
Was wollten sie mit Bruin, wenn ihn der Affe nicht haben sollte? Er musste für Harriet bestimmt sein. Sie sollte sich hier wie zu Hause fühlen, wenn sie sie erst einmal hergebracht hatten. Nein, nicht daran denken, eins nach dem anderen.
Heute Morgen war sie zwei wichtige Schritte vorangekommen, nun war sie vorerst sicher. Jetzt kam es darauf an, sich wie ein richtiges Hausmädchen zu verhalten, sonst würde sie womöglich aufgrund mangelnder Geschicklichkeit entlassen werden, und das wäre gelinde gesagt das Dümmste, was ihr passieren könnte.
Den Rest des Tages zeigte Sally bei allem, was ihr Mrs Wilson auftrug, den denkbar größten Fleiß: Sie putzte Silberbesteck, bügelte Wäsche, ersetzte die Kerzen des großen Kronleuchters im Speisezimmer, wischte Staub und holte Kohlen …
Am späten Nachmittag machte sie gerade eine kleine Pause in der Küche, als eine Glocke schellte.
Sie schaute auf die Reihe kleiner Klingeln neben der Tür und sah, dass diejenige mit der Aufschrift »Bibliothek« immer noch vibrierte. Da außer ihr niemand in der Küche war, musste sie auf das Läuten reagieren.
Sie stand auf, strich sich die Schürze glatt, prüfte, ob ihr Häubchen auch richtig saß, und eilte die Treppe hinauf. Dann stand sie vor der Tür der Bibliothek.
Nicht anklopfen und eintreten, sondern anklopfen und warten, sagte sie sich. Sie erwartete, dass Michelet die Tür öffnen würde, stattdessen rief eine tiefe Stimme »Herein«.
Sie trat ein und machte, die Augen niedergeschlagen, einen kleinen Knicks vor dem Mann im Rollstuhl. Nichts hätte sie lieber getan, als ihn anzuschauen, doch das verkniff sie sich. Sally hatte den Eindruck, vor einem dunklen, bewegungslosen Block zu stehen. Aus den Augenwinkeln heraus gewahrte sie noch einen anderen Mann, der am Fenster stand.
»Wir hätten gern Tee«, sagte die tiefe, brüchige Stimme des Mannes im Rollstuhl.
Irgendetwas in der Tiefe ihres Gedächtnisses wurde aufgewühlt, doch nur für einen Augenblick, als hätte ein großer Fisch seine Flosse bewegt. Dann war es auch schon vorbei.
Sally wollte sich gerade wieder umdrehen und gehen, als er zu ihr sagte: »Warte, du bist neu. Wie heißt du?«
»Kemp, Sir.«
Sie hob die Augen, denn beim Klang ihrer Stimme waren abermals diese zischenden Laute zu hören. Sally blickte kurz in sein breites, rundes Gesicht, registrierte seine kalten Augen und sah das kleine koboldhafte Aas auf seiner Schulter sitzen und ihr die Zähne entgegenblecken.
»Kemp. Sehr schön. Dann geh.«
Sally
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