Der Tiger im Brunnen
nicht tun. Sie kennen sie nicht; sie versteht zu kämpfen …«
»Ich hoffe, Sie meinen das nicht wörtlich.«
»Doch. Sie besitzt einen Revolver und hat ihn auch schon benutzt.«
Er schwieg und schaute düster.
»Ich weiß, dass es bessere Methoden gibt, ihre Probleme zu lösen«, fuhr Margaret fort. »Das hat sie auch versucht, aber Sie sehen ja selbst, wohin es sie gebracht hat. Begreifen Sie nicht, wie sich alles gegen sie verschworen hat?«
»Ich bekomme allmählich eine klarere Vorstellung davon. Und gerade deswegen meine ich, sie sollte ihre schwierige Lage durch das Herumhantieren mit Revolvern nicht noch schwieriger machen. Aber sagen Sie – wissen Sie etwas über diesen Mr Goldberg?«
Margaret schüttelte den Kopf. »Ich bin ihm ein-, zweimal begegnet. Ich … ich vertraue ihm … wie man einem Räuberhauptmann mit edler Gesinnung vertraut oder einem Musketier … ich weiß nicht, wie ernst es ihm wirklich ist.«
»Was ich über ihn herausgefunden habe, reicht meiner Meinung nach, um ihn als seriösen Mann anzusehen. Ich muss sagen, dass er mir Respekt abnötigt. Aber was er macht, ist gefährlich, und dann schwebt auch noch diese Mordanklage über ihm.«
Er wirkte ruhig und bestimmt, dieser unansehnliche kleine Mann mit dem Hinkebein. Margaret schätzte wie Sally Kompetenz; das war einer der Gründe, warum sie sich mochten.
Sie wandte den Kopf, draußen waren Stimmen zu hören, Cicelys und die eines anderen Mädchens. Die Besucherin klang aufgeregt.
Margaret machte einen Schritt zur Tür, doch da wurde schon geöffnet. Auf der Schwelle stand eine vielleicht achtzehnjährige junge Frau, die aussah, als hätte sie geweint.
»Miss Haddow? Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll – ich komme vom Orchard House, ich bin Harriets Kindermädchen – «
»Sarah-Jane Russell. Ja, ich erinnere mich. Was ist denn los? Haben Sie Miss Lockhart gesehen?«
»Nein, Miss – aber man hat uns auf die Straße gesetzt.«
Sie zitterte. Ob nun vor Kälte oder aus Verzweiflung oder aus einer Mischung von beidem, war nicht klar. James Wentworth bot ihr seinen Stuhl an.
»Ich bin Rechtsanwalt, Miss Russell, und vertrete diese Firma. Was ist geschehen? Wer hat Sie auf die Straße gesetzt?«
Sarah saß hilflos da. »Männer sind heute ins Haus gekommen. Sie hatten Papiere – gerichtliche Anordnungen oder so etwas –, wonach das Haus jetzt Mr Parrish gehört mit allem, was darin ist. Dann haben sie uns – also mir, der Köchin und Ellie, dem Hausmädchen – einen Wochenlohn ausgezahlt und gesagt, wir sind entlassen und können gehn. Sie hatten einen Schlosser mitgebracht, um alle Schlösser auszuwechseln. Ich bin ja so … oh, ich weiß nicht, was ich machen soll … – Ach, Miss Haddow, was soll nur werden?«
Der Keller
Erst als Sally im Bett lag, fand sie Zeit, an Goldberg und, mehr noch, an Harriet zu denken. Kaum hatte sie den Kopf auf das harte Kissen gelegt, kamen auch schon all ihre Ängste zurück. Die Vorstellung, dass ihr kleines Kind um sie weinte, war ihr unerträglich.
Sally fühlte einen solchen Schmerz in ihrer Brust, dass sie selbst zu schluchzen anfing. Sie lag ganz still, drückte das Kissen an sich, als sei es Harriet, und weinte leise vor sich hin.
Doch Eliza war noch wach.
»Louisa, was hast du?«, flüsterte es vom anderen Bett herüber. »Stimmt etwas nicht?«
Sally schluckte. »Ich musste nur gerade an … meine Mutter denken«, flüsterte sie zurück. Es war schrecklich, so zu lügen. Es kam ihr vor, als verleugnete sie Harriet. Aber es musste sein.
»Mrs Wilson hat heute Morgen was von dir und deiner Mutter gesagt …«
Gut, sagte Sallys Verstand. Das Lügengebäude hält.
»Ihr geht es gar nicht gut, weißt du«, fuhr sie leise fort. »Ich war so verzweifelt, dass ich ihr etwas Geld geschickt habe … Ich habe es heute Morgen zur Post gebracht. Es war mein letztes.«
Sie schniefte. Ihr Gesicht war nass von Tränen, doch ihr wirklicher Kummer war merkwürdigerweise verflogen. Wie seltsam, dass man dadurch, dass man ein Gefühl vorspiegelte, ein anderes bändigen konnte!
Sally griff nach einem Taschentuch und wischte sich die Tränen ab.
Eliza flüsterte weiter. »Mrs Wilson ist schon in Ordnung.«
»Sie war nett zu mir.«
»Sie kann einen schon mal hart anfassen, aber eigentlich ist sie ganz in Ordnung. Mr Clegg übrigens auch. Bloß den Leibdiener, den kann ich nicht ausstehen. Aber da bin ich nicht die Einzige. Er will mit dir anbändeln, Louisa.
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