Der Tiger im Brunnen
Farbgeruch entgegenschlug. Sie hielt einen Augenblick inne, horchte, um sich zu vergewissern, dass sich niemand näherte, und ging dann hinunter.
Unten machte die Treppe eine scharfe Biegung und führte zu einer weiteren, ebenfalls angelehnten Tür. Der Farbgeruch war hier noch stärker.
Der erste Kellerraum war leer. Frisch verlegte Dielenbretter und weiß gestrichene Wände – das war alles. Durch eine Tür gelangte man in einen erheblich größeren Raum, in dem Möbel standen, ein Tisch und Stühle, die mit Schutzbezügen bedeckt waren. Der große eiserne Käfig des Aufzugs mit der Eisentür und den Wasserrohren der London Hydraulic Company nahm das Zentrum des Raumes ein. Rohre und Gitter waren erst kürzlich gestrichen worden.
Hinter diesem Raum gab es noch einen weiteren, dessen Tür ebenfalls offen stand. Während Sally darauf zuging, vernahm sie ein schwaches, von weit her kommendes Geräusch, als ob in der Ferne eine große Maschine summte oder Wasser über ein Wehr laufen würde. Es schien aus dem Gemäuer selbst zu kommen. Sally war versucht, die Hand an die Wand zu legen, erinnerte sich aber gerade noch rechtzeitig an die frische Farbe. Stattdessen kniete sie sich hin und stützte die Hände auf den Boden. Ein leichtes Vibrieren war zu spüren.
Was hatte das zu bedeuten? War unter dem Kellergeschoss irgendeine Maschine untergebracht? Schwer zu sagen.
Dann bewegte sich plötzlich der Aufzug hinter ihr.
Vor Schreck entfuhr ihr ein leiser Schrei; ihre Hände begannen so stark zu zittern, dass ihr die Kerze aus der Hand glitt und sogleich erlosch.
Gleichzeitig ging oben auf der Treppe ein Licht an – also war ihr dieser Weg nach draußen versperrt. Verzweifelt strich sie mit der Hand über den Fußboden und tastete nach der Kerze – die sie hier auf keinen Fall liegen lassen durfte – und fand sie in einer Lache aus Wachs. Sie stand wieder auf, tastete sich zur nächsten Tür (diesmal ohne auf die Farbe zu achten) und erreichte den Nebenraum. In diesem Moment kam auch schon der Aufzug leise zischend unten an.
Sally stellte sich hinter die offene Tür, nahe an die Wand, und hielt den Atem an. In der Luft hing noch der Geruch der gerade erloschenen Kerze. Die Eisentür des Aufzugs ging rasselnd auf und jemand trat in den Keller.
Früher am Abend hatte im Versammlungssaal der Liga für Moral und Enthaltsamkeit eine Veranstaltung stattgefunden. Diese Liga vertrat so hochgeistige Ideale, dass sie die Ausübung von Zensur kategorisch verurteilte. Sie hätte ausnahmslos jedem Gastredner ihre Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt, selbst wenn er die Verabreichung von gestohlenem Whisky an Kleinkinder befürwortet hätte.
Die Liga für Moral und Enthaltsamkeit fand häufig Anlass, die Hände zu ringen angesichts der trostlosen Zeitläufte – was sie nicht daran hinderte, bei den Gästen Spendengelder abzukassieren –, doch an diesem Abend verzichtete man auf diese Übung, denn Mr Arnold Fox stand auf dem Podium.
Das Thema, das er den versammelten Gästen an diesem Abend näherbringen wollte, war die Einwanderung von Ausländern, als hätte er jemals über etwas anderes gesprochen! Das Publikum wusste schon, was es erwartete. Freilich hatten die Versammelten nichts dagegen, ihre eigenen Vorurteile aus berufenem Mund bestätigt zu bekommen. Fox war in Höchstform: Seine hohe Stimme bebte vor Ernsthaftigkeit, als er von der Reinheit und dem Reichtum des englischen Erbguts sprach.
Am besten gefiel es dem Publikum, wenn Fox sich über Immigranten und Flüchtlinge ausließ, wie niedrig und gemein diese Menschen waren, wie widerlich ihre Gewohnheiten, wie verseucht ihre Körper von Krankheiten aller Art.
Das wollte man im Saal hören. Man spürte förmlich das Wimmeln und Schnattern dieser niederen, hassenswerten Kreaturen in der Luft, so anschaulich verstand Fox zu schildern: rot geränderte Augen, verfaulte Zähne, schmierige Schläfenlocken, fleischige Nasen, bestialischer Geruch … Das Publikum überkam ein wohliger Schauer des Entsetzens.
Und Fox heizte die Stimmung noch weiter an. »Reinheit!«, intonierte er. »Reinheit … das Geburtsrecht jeder englischen Maid, das kostbarste Gut jeder englischen Rose – geschändet! Der heilige Tempel ihrer Weiblichkeit, ihr heiliges Juwel – geplündert und niedergerissen von diesen Ungeheuern, die nur Wollust und niedere Triebe kennen …«
Mit nichts anderem konnte man die Leute leichter aufpeitschen als mit sexuellen Anspielungen.
Hinten im
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