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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Weißt du, seit ich hier arbeite, bin ich zum ersten Mal in meinem Leben froh, nicht hübsch zu sein. Aber nicht nur er, auch der Meister, Mr Lee …«
    Sally überlief ein Schauer. »Was meinst du damit?«
    »Na ja.«
    Man hörte das Bett ächzen, als Eliza sich in eine bequemere Lage drehte. Es war zu dunkel, um sie sehen zu können, und im Geräusch des Regens, der aufs Dach prasselte, war ihr Flüstern nur schwer zu verstehen.
    »Keiner hier wird dir irgendwas über Mr Lee erzählen. Wenn du fragst, wirst du gleich verwarnt. Es ist, als sei der Mann für uns nur dann vorhanden, wenn wir ihn bedienen. Die übrige Zeit scheint er überhaupt nicht zu existieren. In meiner letzten Stellung bei Sir Charles Dyhouse haben wir immer in der Küche darüber geklatscht, was Sir Charles im Parlament machte oder wer in seinem Haus übernachtete und solche Sachen. Bei Gesellschaftsabenden, nach denen die Gäste auch über Nacht blieben, war ein Gentleman mit von der Partie, ein gewisser Mr Priestley, der schlich sich immer zu Lady Dyhouse’ Schlafzimmer und kam erst morgens wieder zurück. Da sind wir zu dritt extra früh aufgestanden, um ihn in seinem Nachthemd zu überraschen. Jede von uns tauchte an einer Ecke auf, mit einem Kohlenkübel oder einem Bündel Wäsche unter dem Arm. Kaum war er an einer vorbei, kam schon die Nächste und schmetterte ihm ein fröhliches ›Guten Morgen, Mr Priestley!‹ entgegen. Na, der ist vielleicht rot geworden! Aber er hat uns ein hübsches Trinkgeld gegeben, beim nächsten Mal haben wir uns dafür dann ein wenig zurückgehalten.«
    Sally lachte und schnauzte sich.
    »Ich erinnere mich auch an solche Bäumchen-wechsle-dich-Spiele«, sagte sie. »Man wusste genau, wer zu wem ging, weil die Dame des Hauses die Zimmer so belegt hatte, dass die Herrschaften nicht weit zu gehen brauchten.«
    »Ja, und dann habt ihr darüber geredet, oder? Ist doch ganz normal. Aber nicht hier. Keiner sagt was über ihn. So als trauten wir uns nicht. Ich habe jedenfalls zu keinem aus der Küche irgendetwas über ihn gesagt – ich meine, den Herrn. Nur Lucy, das ist das Mädchen, das vor dir hier war. Die hat mir mal was von dem Leibdiener erzählt. Der soll ein Mädchen runter zum Herrn in den Keller gebracht haben. Eine von dieser ganz bestimmten Sorte Mädchen – du weißt schon. Der Herr schaut sich das Mädchen nur an, stundenlang. Danach gibt der Leibdiener ihr Geld und bringt sie wieder raus. Der Herr hätte sich bestimmt auch Lucy in den Keller bringen lassen, hübsch wie sie war, aber der Leibdiener achtete darauf, dass der Herr sie nicht zu sehen bekam, und behielt sie für sich. Das hat ihr allerdings nicht gut getan, wenn du dich erinnerst.«
    »Wo hat er sie hingebracht? In den Keller? Was ist denn da unten?«
    »Keine Ahnung. Mr Michelet putzt unten selbst, dem Hauspersonal ist der Zutritt verboten. Erst vor kurzem hat man einen neuen Fahrstuhl, so ein hydraulisches Dingsbums, eingebaut. Bisher musste man den Herrn immer in einem handbetriebenen Aufzug rauf- und runterkurbeln. Das ganze Haus ist mit den modernsten Sachen voll gestopft. Man hat eine Menge Kabel in den Keller verlegt, Telegrafenleitungen oder so was. Was es sonst noch alles da unten gibt, wissen wir nicht.«
    »Hat er dich jemals angesprochen?«
    »Der Herr? O nein, er hat mich noch nicht einmal genauer angesehen. Außer, wenn ich den Tee reinbringe oder Kohlen hole oder sonst etwas für ihn erledige. Er betrachtet das Haus und uns als ein Hotel mit Personal. Anders als sein eigenes Gefolge. Er kennt unsere Namen nicht; wir sind ihm völlig egal.«
    »Womit verdient er sein Geld?«
    »Das weiß der Hebe Gott. Na ja, alles in allem ist die Stellung hier gar nicht so schlecht.« Eliza gähnte. »Hör nur mal, wies draußen schüttet. Wenn das so weitergeht, müssen wir morgen die ganze Küche mit Wäsche voll hängen.«
    Sie drehte sich auf die andere Seite. Nach ein oder zwei Minuten war ein sanftes Schnarchen zu hören.
    Sally lag still da, die Tränen auf ihrem Gesicht waren getrocknet, Geist und Körper wacher denn je.
    Ihr Zimmer lag wie das der anderen Dienstboten direkt unter dem Dachboden. Unter ihnen befanden sich die Zimmer des Sekretärs, des Leibarztes und weiterer Personen von Mr Lees Gefolge, die Sally nur flüchtig gesehen hatte. Darunter wiederum lag das Schlafgemach des Herrn sowie dessen Ankleidezimmer und Bad; daran schloss sich das Zimmer des Leibdieners an. Dann kam das Erdgeschoss und darunter die Küche. Ganz

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