Der Tiger im Brunnen
überfüllten Saal stand ein dunkeläugiger Mann mit Hut und grauem Wollschal. Er beobachtete – aber nicht etwa den Redner, den kannte er bereits zur Genüge, sondern das Publikum, und er mochte den Fanatismus nicht, zu dem Fox es aufwiegelte. Er wandte sich dem Mann neben ihm zu und sagte leise: »Blas die Sache ab, Dick. Eine normale Versammlung zu sprengen, ist etwas anderes, als es mit einer fanatisierten Menge zu tun zu haben. Heute Abend müssen wir uns aufs Zuhören und Beobachten beschränken. Vielleicht können wir herausbekommen, wer ihn bezahlt. Aber keine Gewalt.«
»Die Jungs stehen aber bereit, Mr Goldberg«, entgegnete der andere.
»Dann sollen sie wieder abziehen«, sagte Goldberg mit einem kalten Blick aus seinen dunklen Augen. »Siehst du nicht die Saalordner? Hast du draußen nicht die Polizisten bemerkt? Was ist dir lieber: furchtlos sein und verlieren oder gewitzt sein und gewinnen? Versuch erst gar nicht zu antworten, die Antwort wäre falsch. Tu, was ich dir sage. Ich kriege ihn schon noch, verlass dich drauf.«
Der andere nickte enttäuscht und eilte davon, um Goldbergs Anordnung weiterzugeben. Goldberg schaute wieder nach vorn zum Podium, als ihn jemand von der anderen Seite am Ärmel zupfte. Er drehte sich um und sah in das schmale, besorgte Gesicht eines jungen Mannes mit Brille.
»Reuben Singer?«, sagte er leise, während sich Fox vorne immer mehr ereiferte und im Saal hässliches Gejohle erntete. »Du gehst doch bei Katz in die Lehre, nicht wahr? Was machst du denn hier? Hier ist es gefährlich!«
»Sie sind auch hier, Mr Goldberg. Und auf Ihren Kopf ist eine Belohnung ausgesetzt …«
»Daran bin ich gewöhnt. Und sprich meinen Namen nicht laut aus. Also, weshalb bist du gekommen?«
»Es ist wegen der Frau mit dem Kind. Mr Katz meinte, Sie sollten Bescheid wissen, aber niemand konnte sagen, wo Sie stecken.«
Goldbergs Augen funkelten plötzlich.
»Was ist mit ihr? Haben die anderen sie gefunden?«
»Nein. Sie hat das Kind bei Familie Katz gelassen; Rebekka Meyer kümmert sich um die Kleine. Miss Lockhart hat sich, gut getarnt, ins Haus des Zaddik eingeschlichen, um dort als Hausmädchen zu spionieren. Sie konnten sie nicht davon abhalten. Und natürlich wussten sie nicht …«
Singer erwartete Bestürzung oder Zorn. Umso verblüffter war er, als Goldberg stattdessen ein verschmitztes, bewunderndes Lächeln aufsetzte.
»Was für ein Mädchen!«, sagte er. »Wunderbar! Wer hätte das gedacht?«
»Aber bringt das unsere Pläne nicht durcheinander?«
»Beträchtlich. Das heißt, dass wir sie da herausholen müssen. Wenn sie nur ja vorsichtig ist …«
Goldbergs Miene erstarrte wieder zu Eis. Singer wünschte, er würde nicht so finster dreinschauen. Man konnte nicht erwarten, unerkannt zu bleiben, wenn man ein solches Gesicht machte. Noch schlimmer war allerdings, dass die Männer um sie herum sie während Fox’ Rede flüstern gehört hatten. Nun drehten sie sich um und starrten sie an.
Doch Goldberg schien das egal zu sein. Er strahlte die Gaffer entzückt an, wandte sich wieder dem Podium zu und klatschte versonnen, in stiller Freude, Beifall.
Er ist verrückt, dachte Singer. Und die junge Engländerin Lockhart muss genauso verrückt sein …
Sally rührte sich nicht. Die Schritte entfernten sich langsam vom Aufzug, kamen auf die Tür zu, hinter der sie stand, und stoppten.
Eine Stimme sagte auf Englisch: »Machen die Dienstboten hier unten sauber?«
Es war keine Stimme, die Sally kannte; sie glaubte einen deutschen Akzent herauszuhören, es klang knapp und abgehackt.
»Selbstverständlich nicht«, entgegnete Michelet. »Dienstboten ist es nicht erlaubt, hierherzukommen, Herr Winterhalter.«
Der Sekretär, dachte Sally.
»Machen Sie selbst hier sauber?«
»So ist es.«
»Nicht sehr gründlich, wie ich sehe. Sie haben Kerzenwachs auf den Boden tropfen lassen.«
»Ich habe hier nie Kerzen benutzt. Das müssen die Handwerker gewesen sein.«
»Darüber wird Mr Lee nicht gerade erfreut sein. Kümmern Sie sich darum.«
Sally betete, dass das Wachs mittlerweile trocken war und sie nicht verraten würde.
Nach einer Weile sprach Michelet erneut.
»Darf ich Sie fragen, Herr Winterhalter, ob Mr Lee an ein Kindermädchen gedacht hat?«
»Ein Kindermädchen?«
»Für das Kind. Wenn die Kleine hier untergebracht werden soll, braucht sie jemanden, der sich um sie kümmert. Ich frage nur.«
»Das ist nicht Ihre Sache, Michelet.«
»Ich erlaube mir, Sie darauf
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