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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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wartete eine Weile, dann stand sie auf und tastete nach der Tür. Es war vollkommen dunkel. Ein Streichholz durfte sie hier nicht anzünden. Sie musste sich den Weg durch den Keller ertasten, den Flur durchqueren und über die Hintertreppe in ihr Zimmer gelangen. Hoffentlich war die Farbe trocken.
    Sie brauchte fast eine Stunde. Als sie die Zwischentür, die den Flur vom Treppenhaus trennte, hinter sich schloss, hörte sie es gerade zwei Uhr schlagen. Ihr war kalt. Alle Glieder taten ihr weh von der Hausarbeit und von der Anstrengung, kein Geräusch zu verursachen.
    Noch drei Treppen und sie war in ihrem Zimmer. Sally kam im ersten Stock an und wollte sogleich weitergehen – als ihr vor Schreck das Herz stehenblieb.
    Jemand stand vor ihr und schien auf sie zu warten.
    Ein Streichholz wurde angezündet.
    Im aufflammenden Licht sah sie das feiste Gesicht Michelets.
    »Du warst das also«, flüsterte er. »Louisa, du schlimmes Mädchen. Nun, am besten kommst du gleich mit auf mein Zimmer. Wir haben miteinander zu reden. Und ich freue mich schon darauf.«

 
Juden raus
     
     
    Nachdem sie sein Zimmer betreten hatten, zündete er mit einem weiteren Streichholz die Lampe an. Dann ergriff er sie ohne Vorwarnung und küsste sie auf den Mund. Er schmeckte nach Zigaretten, Fruchtdragees und Eau de Cologne. Er hielt sie grob und äußerst ungeschickt. Sallys Hals war so verdreht, dass sie kaum Luft bekam. Sie schob ihn beiseite und keuchte.
    »Hübsch still«, zischte er sie an. »Mr Lee ist gleich nebenan. Er hat ein sehr feines Gehör. Nun, wie lautet deine Erklärung?«
    »Meine Erklärung, Sir?«
    »Was du im Keller zu suchen hattest. Du kannst froh sein, dass ich dich nicht an diesen arroganten Herrn Winterhalter verraten habe.«
    »Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen. Ich wusste gar nicht, dass es hier einen Keller gibt. Ich bin bloß in die Küche gegangen – zur Eiskiste. Um mir etwas Eis auf die Stirn zu legen, weil ich so fürchterliche Kopfschmerzen hatte. Ich weiß, das hätte ich nicht tun dürfen, aber es war einfach nicht zum Aushalten. Ich kenne auch Mr Winter … nicht. Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen, Sir.«
    Seine Augen hatten sich zu Schlitzen verengt.
    »Du warst da unten. Ich habe das Streichholz gesehen, das du in den Kamin der Bibliothek geworfen hast, und ich habe die Wachstropfen auf den Treppenstufen bemerkt. Winterhalter hat das übersehen. Und was ist das hier?«
    Er hob ihren Mantel hoch. Am Saum waren ein paar Schmierer, die nach weißer Farbe aussahen.
    »Das habe ich mir heute Morgen auf dem Postamt geholt – dort wurden gerade die Wände frisch gestrichen … Aber warum verhören Sie mich, Mr Michelet?«
    Sally versuchte unschuldig, verwirrt und gekränkt auszusehen. Gleichzeitig öffnete sie den Kragen ihres Mantels. Sie sah, wie sein Blick dorthin wanderte und dachte zum ersten Mal, dass sie doch noch davonkommen könnte.
    Er ließ den Saum los und berührte behutsam ihren Kiefer. Dann fasste er sie beim Kinn, bog es nach unten und strich mit den Fingern an ihrem Hals hinunter bis zur Halsgrube. Sally zwang sich stillzuhalten, als er mit dem Finger das Schlüsselbein nachfuhr, erst von links nach rechts, dann in umgekehrter Richtung.
    Sie sah, dass seine Augen einen merkwürdigen Glanz bekamen, und hustete leise, als ob sie krank wäre.
    »Bitte, Sir …«, flüsterte sie.
    »Louisa, du bist unartig gewesen«, sagte er mit sanfter Stimme, fast so, als wäre er hypnotisiert. »Du darfst mich nicht anlügen. Was hast du gehört von dem, was er unten gesagt hat?«
    »Ich habe niemanden reden hören, Sir – ehrlich – «
    Sally straffte sich und legte ihm behutsam eine Hand auf die Brust. Er ergriff sie und drückte sie an seine Lippen. Dann zog er sie ein zweites Mal an sich und ließ seine Hände unter ihrem Mantel bis zu den Hüften hinabgleiten. Sie zitterte: Er soll meinen, es sei Nervosität, dachte sie. Er konnte nicht ahnen, dass es Abscheu war.
    »Oh, Mr Michelet … Bitte, darf ich wieder in mein Bett gehen?«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Ein andermal … Ich bin krank, Sir …«
    »Louisa«, sagte er mit sanfter Stimme. »Du bist schön. Noch einen Kuss.«
    Er drückte seinen Mund auf den ihren und sog und lutschte gierig wie ein Kind an seinem Bonbon. Sally hielt die Luft an und gab sich schlaff und willenlos wie eine Puppe. Dann hörte er auf.
    »Bald«, sagte er mit verschwommenem Blick. Sie hatte noch nie einen Mann gesehen, der so nahe daran war, die

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