Der Tiger im Brunnen
Kontrolle über sich zu verlieren. Zugleich spürte sie auch die Furcht, die ihn zurückhielt: Furcht vor Winterhalter, Furcht vor Lee, Furcht sogar vor ihr.
Denn er war sich nicht wirklich sicher, ob sie etwas mitgehört hatte oder nicht. Und er konnte es sich nicht erlauben, darüber im Ungewissen zu bleiben.
Er schob sie beiseite. Ganz offensichtlich war er ein Mann, der es liebte, Frauen verängstigt, nervös und unschlüssig zu sehen. Wenn sie sich ihm umstandslos ergeben hätte, hätte er sie angewidert weggestoßen. Sie musste ihn glauben machen, er sei der überlegene Jäger und sie das scheue Reh. Das Letzte, was sie von ihm sah, waren seine glänzenden Augen, in denen sie heißes Verlangen, aber auch eine dunkle Furcht lesen konnte.
Sally blieben wenig mehr als drei Stunden Schlaf. Unter allen Bildern, die ihre Träume durchgeisterten, war keines so unerträglich wie die Vorstellung, dass die kleine Harriet in jenen Keller eingesperrt und zum Dienst für den Zaddik abgerichtet würde. Als Pflegerin, die ihn futterte, ihm das Kinn abwischte …
Allein schon der Gedanke machte sie krank. Dies und der mangelnde Schlaf waren die Gründe, weshalb sie am Morgen recht bleich aussah. Mrs Wilson sprach sie darauf an, als Sally im Lauf des Vormittags gerufen wurde, ein Tablett mit Kaffee in die Bibliothek zu bringen.
»Nein, es ist nichts, Mrs Wilson«, sagte sie. »Ich hatte schreckliche Kopfschmerzen, aber das ist jetzt vorbei.«
Auf dem Tablett standen drei Tassen. Wieder hatte sie der Zaddik rufen lassen und wieder bemühte sie sich, nicht aufzusehen, als sie das Tablett auf dem Tisch neben dem Kamin abstellte. Sally warf einen unauffälligen Blick in die Ecke, wo sich die Tür zum Keller befand. Jetzt war sie geschlossen.
Sally machte vor dem Zaddik einen Knicks und wollte schon wieder gehen, als er zu ihr sagte: »Halt. Dein Name ist Kemp, oder?«
»Ja, Sir«, sagte sie, ihn flüchtig anblickend.
»Sei so gut und schenke meinen Gästen Kaffee ein.«
»Jawohl, Sir.«
Sally spürte, dass alle drei sie beobachteten, wie sie die Tassen bereitstellte und Kaffee einschenkte. Wer sie waren, erkannte sie erst, als sie die Tassen austeilte. Der Mann, der gerade sprach, nahm die Tasse ohne die kleinste Geste der Anerkennung. Sally erkannte seine Stimme: Es war derselbe, den sie auf dem Einwandererschiff gesehen hatte, Arnold Fox.
Unwillkürlich schaute sie zu dem anderen Mann hinüber und sah, dass es Arthur Parrish war. Er blickte sie etwas argwöhnisch an, so als wäre er, was sie betraf, unschlüssig. Aber dann wandte er sich Arnold Fox zu und Sally atmete auf.
Sie nahm sich zum Servieren so viel Zeit, wie sie konnte, ohne Misstrauen zu erregen, und lauschte.
»Schauen Sie, die Gefahr bei einem großflächigen Pogrom nach russischem Muster«, dozierte Parrish, »besteht darin, dass die Juden, die gerade auf ihrem Weg nach England sind, der Versuchung nachgeben könnten, gar nicht erst in England Fuß zu fassen, sondern gleich nach Amerika weiterzufahren. Oh, ich weiß, Sie würden das nur begrüßen«, fügte er gleich hinzu, als Mr Fox ihn unterbrechen wollte, »aber betrachten Sie die Sache auch einmal unter dem geschäftlichen Gesichtspunkt.«
Sally reichte ihm seine Tasse und er nahm sie entgegen. Dann wandte sie sich dem Zaddik zu. Der Affe war nicht da, wie sie jetzt bemerkte.
»Schenk mir auch ein«, befahl ihr der Zaddik.
Diese Stimme – ihr sanfter, tiefer, eigentümlich brüchiger Klang … Sie hatte sie schon früher einmal gehört oder in einem Albtraum von ihr geträumt. Dankbar für die Möglichkeit, noch bleiben zu können, goss Sally eine weitere Tasse Kaffee ein, während Fox zu einer Erwiderung ansetzte.
»Ich verfolge höhere Ziele als bloß kommerzielle, Mr Parrish. Mir geht es um die Reinheit der englischen Rasse.«
»Sie sind ein eitler, selbstgerechter Mensch, dem es in erster Linie darum geht, ins Parlament gewählt zu werden«, kanzelte ihn der Zaddik ab. »Ich unterstütze Sie finanziell nur so lange, wie Sie mir nützlich sind. Sollten Sie das nicht mehr sein, lasse ich Sie fallen. Kemp – bring mir den Kaffee und setz mir die Tasse an die Lippen.«
»Er ist heiß, Sir«, sagte Sally, während sie den mühsam unterdrückten Ärger auf Arnold Fox’ Gesicht und die fröhlich-unverbindliche Miene von Parrish wahrnahm. Ebenso registrierte sie, wie ruhig ihre Hände das feine Porzellan an Mr Lees Lippen führten.
Er schlürfte deutlich hörbar einmal, zweimal, dreimal.
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