Der Tiger im Brunnen
Sein massiger Körper, der ihr jetzt so nahe war, hatte fast keine Konturen. Der maßgeschneiderte Anzug, den er trug, konnte die Tatsache nicht verbergen, dass Brust und Arme nur noch reglose Fleischbündel waren. So aus der Nähe konnte sie ihn atmen hören und beobachten, wie sich der breite Brustkorb beim Einatmen mühsam hob und beim Ausatmen seufzend senkte. Sein glattes, rötliches Haar war mit einer parfümierten Pomade eng um den Schädel frisiert. Seine großen, hilflosen Finger, die wie tot in seinem Schoß lagen, waren tadellos manikürt.
»Noch einmal«, sagte er und sie setzte ihm die Tasse wieder an die Lippen. Bei aller Furcht und aller Abscheu fühlte sie doch irgendwie Mitleid für diesen Menschen, der in seinem massigen Körper gefangen und zu völliger Bewegungslosigkeit verurteilt war.
Arnold Fox setzte zitternd seine Tasse ab und stand auf. Sally vermied es, ihn anzuschauen, und hielt die Tasse so, dass der Zaddik ihn sehen konnte. Mit bebender Stimme tat Fox seine Entrüstung kund: »Ich muss tun, was Sie sagen. Ich habe keine andere Wahl. Aber, Mr Lee, ich scheue mich nicht, Ihren Meinungswandel als Verrat zu bezeichnen. Statt der Geste zorniger Empörung, die das britische Volk sich zu zeigen anschickt, wird die Sache unter Ihrer Regie zu wenig mehr als einem … pöbelhaften Krawall. Doch Sie müssen das am besten wissen; zweifellos wissen Sie es am besten, Sir. Ich wünsche noch einen guten Tag, Gentlemen.«
Damit verließ er den Raum.
Die anderen beiden sahen ihm gleichgültig nach, und als die Tür hinter dem Gast zuknallte, sagte der Zaddik: »Schön. Damit wäre die Sache für uns entschieden, Parrish. Ich füge mich mit Freuden dem Willen des Himmels.«
Mr Parrish lächelte. »Wir machen also weiter, Sir?«
Er hielt inne und schaute zu Sally hinüber, die zwar seinen Blick spürte, aber die Augen gesenkt hielt.
»Danke, Kemp«, sagte der Zaddik. »Du kannst jetzt gehen.«
»Danke, Sir«, sagte Sally, knickste und ging.
Im Flur sah sie sich rasch um. Niemand war zu sehen, außerdem wusste sie, dass Mr Clegg im Anrichtezimmer und Mrs Wilson in der Küche beschäftigt waren …
Sie bückte sich und tat so, als müsse sie ihre Schürze binden.
Parrishs Stimme war durch die Tür zu hören: »… die Trillerpfeifen?«
»Jetzt noch nicht«, bestimmte der Zaddik. »Der englische Mob ist zu undiszipliniert. Im Übrigen hat er den Geschmack am Randalieren verloren. Er muss erst dazu erzogen werden.«
»Aber Sie möchten schon einen richtigen Aufruhr?«
»Ich will Plünderungen und Tote und ich will eine ganze Straße in Flammen aufgehen sehen. Eine Straße mit jüdischen Häusern. Das ist die effektivste Art, Schrecken und den Drang nach Vergeltung zu erzeugen. Und dann sieht es so aus, als ob Fox dahintersteckte. Der wird versuchen den Aufruhr zu unterdrücken, weil er glaubt, das sei in unserem Sinn, doch dazu reicht sein Einfluss nicht. Die Presse wird ihn der Volksverhetzung beschuldigen; wir werden ihm vorwerfen, er sähe dem Aufruhr untätig zu. Wir lassen ihn fallen und sichern im Gegenzug den jüdischen Hilfsfonds unsere Unterstützung zu … Dann kommen sie von ganz allein zu uns, Parrish. Die Fische werden glücklich in unsere Netze schwimmen!«
»Ein bestechender Plan!«, sagte Parrish anerkennend. »An welchen Zeitpunkt haben Sie gedacht, Mr Lee?«
Sally lehnte sich an die Tür, um besser mithören zu können. Da legte sich plötzlich eine Hand auf ihren Mund; ein Arm umfasste ihre Taille und hob sie hoch.
Einen Augenblick wehrte sie sich, bis sie merkte, dass die Hand über ihrem Mund einen weißen Handschuh trug. Es war nicht Michelet – es war einer von den Lakaien. Unvermittelt ließ sie sich fallen, als sei sie ohnmächtig geworden.
Erschrocken löste der Diener seinen Griff.
Sie fiel nach vorn, fand aber das Gleichgewicht wieder und drehte sich ruckartig um.
»Was erlaubst du dir eigentlich?«, fuhr sie ihn an.
»War doch bloß ’n Scherz – «
Er war ein stämmiger, angeberischer Kerl mit einem breiten, selbstbewussten Grinsen. Doch der zornige Ausdruck in Sallys Gesicht verunsicherte ihn.
»Was fällt dir ein, mich so anzufassen?«, zischte sie mit gepresster Stimme, damit man sie durch die Tür nicht hören konnte. Doch mit einem Mal sah sie, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte, und da merkte Sally, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
»Wer bist du eigentlich?«, fragte er. »Du bist gar kein Hausmädchen – das ist mir jetzt klar. Was
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