Der Tiger im Brunnen
machst du hier?«
Sie hatte sich wie eine Dame verhalten: Sie hatte so reagiert, wie es sich eine Angehörige ihrer Gesellschaftsschicht schuldig war, wenn sich ihr ein Mann in solcher Weise näherte, wie er es getan hatte. Sie hatte vorausgesetzt, dass sich jede junge Frau ebenso verhalten würde. Sie erinnerte sich wieder daran, dass die Männer sie ganz anders anschauten, wenn sie meinten, keine Dame vor sich zu haben. Ein echtes Hausmädchen hätte es sich wohl kaum leisten können, verärgert oder gar empört zu reagieren. Ein etwas verächtlicher Blick hätte vollauf genügt.
Doch kaum war sie sich ihres Fehlers bewusst geworden, sah sie eine Möglichkeit, die Initiative wieder an sich zu reißen. Aber sie musste rasch handeln und seine vorübergehende Unsicherheit ausnutzen.
Sie legte den Finger auf den Mund, schaute um sich und bedeutete ihm, ihr in den Salon zu folgen.
Neugierig geworden, ging er ihr nach. Sie schloss die Tür hinter ihm und schaute sich auch hier um, ehe sie flüsterte: »Wie heißt du? Bist du John?«
»So heißt der andere Diener. Ich bin Alfred. Aber – «
»Hör zu, Alfred. Ich brauche deine Hilfe. Du hast Recht – ich bin hier nicht als Hausmädchen. Ich bin wegen meiner Cousine hier …«
Sie stand dicht vor ihm, schaute zu ihm auf und hoffte, möglichst anziehend und schutzbedürftig auszusehen. Er machte immer noch eine argwöhnische Miene, war aber gleichwohl interessiert und nicht abgeneigt, neben einem hübschen Mädchen zu stehen, das ihm ein Geheimnis anvertrauen wollte.
»Deine Cousine?«
»Ja, Lucy. Du erinnerst dich – sie musste wegen diesem Franzosen gehen, diesem …«
Alfred dämmerte es. »Ah. Der Leibdiener!«
»Ja. Dieses Schwein«, sagte sie. »Sie hat mir alles erzählt. Wie er ihr die Ehe versprochen hat, wie er beteuerte, sich um sie zu kümmern, alles. Meine Mutter, also Lucys Tante, hat sich deswegen schrecklich gegrämt. Wir waren wie Schwestern zueinander. Ich habe mir geschworen, diesen Mistkerl zur Rechenschaft zu ziehen … Aber das darf niemand wissen. Vor allem nicht er selbst.«
»Was willst du denn mit ihm machen?«
»Ich weiß es noch nicht. Ich werde schon noch etwas finden. Ich bring ihn zur Strecke, jawohl. Sie war so ein süßes Mädchen … Und jetzt ist sie erledigt. Sie bekommt nie wieder eine Anstellung …«
Er nickte.
Besonders helle war er nicht, dachte sie – eitel, eingebildet wie alle Lakaien, stolz darauf, die breite Brust und die strammen Waden zu präsentieren –, aber im Grunde doch gutherzig, wenn sie ihre Menschenkenntnis nicht trog. Und er wusste, was es für Dienstboten bedeutete, ohne Zeugnis aus der Stellung entlassen zu werden.
»Bitte, Alfred, kann ich dir vertrauen? Ich habe sonst niemanden hier, mit dem ich darüber sprechen kann …«
»Klar«, sagte er. »Ich verrate dich nicht. Ich kann den geschniegelten französischen Lackaffen sowieso nicht leiden. Keiner von uns. Ein ekelhafter Kerl. Wir dachten alle, du wolltest ihn bezirzen …«
»Das will ich auch. Ich will ihn in die Falle locken. Er soll dafür büßen. Du bist mir doch nicht böse, dass ich dir das erzählt habe, Alfred? Ich will dich nicht in Schwierigkeiten bringen …«
»Ach wo. Ich bin auf deiner Seite. Die anderen haben in der Küche über dich getratscht. Du siehst eben nicht wie ein Hausmädchen aus – bist viel zu fein. Warst bei einer Dame in Stellung? Dachte es mir. Das erklärt einiges. Wenn du nicht zu sehr auffallen willst, musst du ungezwungener sein. Auch mal ’nen Witz machen. Dann kommst du dir nicht so fehl am Platz vor. Du siehst deiner Cousine aber nicht gerade ähnlich …«
»Sie schlägt mehr nach ihrem Papa. O Alfred, ich bin dir ja so dankbar.«
Sally legte ihm die Hand auf die Brust, aber nur für einen Augenblick. Sie fühlte, dass er eine Anwandlung von Ritterlichkeit spürte, die ihn am Ende vielleicht selbst überraschte.
»Wo ist er jetzt, Mr Michelet?«, fragte sie leise.
»Er wird wohl oben beim Sekretär sein, im zweiten Stock, wo auch der Herr die meiste Zeit über arbeitet. Die Diener aus seinem Gefolge haben dort ihren eigenen Aufenthaltsraum, gleich neben dem Aufzug.«
»Macht das Hauspersonal oben sauber oder übernimmt das auch Mr Michelet, wie unten den Keller?«
»Wer hat dir etwas von dem Keller gesagt?«
Vorsicht, dachte Sally. »Ich habe die offene Tür in der Bibliothek gesehen, als ich dem Meister gestern seinen Tee brachte. Ich habe Eliza danach gefragt.«
»Aha … Nein, er
Weitere Kostenlose Bücher