Der Tiger im Brunnen
worden. Sie haben ihm einen Zettel mit der Aufschrift >Juden raus< auf den Mantel geheftet. Außerdem hat jemand einen Ziegelstein ins Schaufenster der jüdischen Bäckerei Bloom geworfen … Ich möchte deshalb nicht, dass ihr allein aus dem Haus geht, bis sich die Lage wieder beruhigt hat.«
»Du redest ja, als ob es zu einem Pogrom kommen könnte«, sagte Mrs Katz. »Morris, meinst du wirklich, dass es so schlimm steht?«
»Ich weiß es noch nicht! Mir gefällt nicht, was sich da draußen zusammenbraut, das ist alles. Wenn Goldberg sich frei bewegen könnte, wäre er vielleicht in der Lage, die Juden wieder zu einigen. Im Moment haben wir uns alle in Parteien und Gruppen aufgespalten. Reuben Singer sagte, er habe Goldberg gestern Abend bei einer Versammlung mit Arnold Fox gesehen. Ausgerechnet an einem solchen Ort …«
»Der Mann ist verrückt«, sagte Mrs Katz. »Genauso verrückt wie diese Zionisten. Man sieht sie jetzt überall predigen. Hast du ihnen schon mal zugehört?«
Der Zionismus war eine jüdische Bewegung, die für die Rückkehr nach Palästina warb. Morris Katz winkte ab.
»Selbstverständlich habe ich ihnen zugehört, um zu wissen, welche Ziele sie verfolgen. Meinst du, ich hole mir meine Ansichten aus zweiter Hand? Ich bin mir auch nicht so sicher, ob sie wirklich so verrückt sind. Im Zionismus steckt auch viel Vernünftiges.«
»Goldberg wüsste es besser. Er würde seine Zeit nicht mit Spinnern verschwenden.«
»Vor zwei Minuten war er noch verrückt, jetzt wüsste er es besser! Vielleicht entscheidest du dich mal. Aber ihr täuscht euch. Goldberg würde zwar mit ihnen streiten, aber nicht ohne ihnen vorher zugehört zu haben. Das versteht ihr anderen nicht an ihm – «
»Ihr anderen! Wer sind die anderen? Die eigene Frau zählst du zu ›den anderen‹?«
»Oh, das können wir jetzt nicht diskutieren«, wehrte Morris Katz ab. »Ich muss zurück in den Laden. Rebekka – nimm das Kind. Und denkt daran, was ich gesagt habe: Geht nicht allein auf die Straße. Und haltet die Tür geschlossen.«
Er verabschiedete sich von Frau und Tochter herzlicher, als er es sonst tat, und eilte hinaus. Harriet begriff den Wechsel von einem Arm zum anderen nicht. Rebekka setzte sich mit ihr hin und wunderte sich, wie leicht und umgänglich dieses kleine Geschöpf doch war, das vor ein paar Minuten noch wütend geschrien und um sich geschlagen hatte.
Tiefe Müdigkeit war über Harriet gekommen. Sie träumte, sie wäre zu Hause in Orchard House und mit ihr Onkel Webster, Sarah-Jane, Jim, Bruin und Mama. Und allen befahl sie eindringlich, nie wieder wegzugehen.
Wie viele jüdische Emigranten gehörte auch Morris Katz zu einer Chewra, einem religiösen Verein, der zwar keine Gemeinde, aber doch mehr als ein Club war. In einer Chewra wurden religiöse Feiern abgehalten, es gab Vorträge und Diskussionen. Vor allem aber konnten dort Männer nach einem langen Arbeitstag geistige Erquickung am Brunnen des Talmud, des jüdischen Weisheitsbuchs, finden. Für viele Emigranten war die Chewra eine Verbindung zur Vergangenheit, zur städtischen oder dörflichen Gemeinschaft ihrer Heimat. Sie bot ihnen ein vertrautes Umfeld, an das sie sich in diesem fremden Land klammerten.
Als Morris Katz an diesem Abend die Chewra betrat, musste er zugeben, dass das Urteil seiner Frau über die Zionisten richtig war, denn im Saal war ein Gastredner, ein blasser, fanatisch wirkender junger Jude aus Russland, den Katz vorher noch nie gesehen hatte.
»Meine Brüder«, sagte er mit bewegter, wohlklingender Stimme, »was geschieht heute in Europa? Ich werde es euch sagen: Jede Nation gelangt zu einem Bewusstsein ihrer selbst – wird gewahr, wer und was sie ist – und als Folge davon vertreibt sie all jene, die nicht zu ihr gehören. Russland vertreibt uns, Deutschland duldet uns nicht länger und Polen will uns ebenfalls loswerden. Aber sind wir denn nicht auch eine Nation? Ist nicht jeder Jude Angehöriger einer Nation, freilich einer Nation ohne Land?«
Die Frage war nicht neu und viele der Versammelten hatten schon das Für und Wider erwogen. Doch der junge Mann fuhr fort.
»Ich sage euch, ja, es gibt eine jüdische Nation, und ja, es gibt ein Land, das uns gehört, weil es uns der Herr, gesegnet sei er, gegeben hat. Er hat es den Vätern Abraham, Isaak und Jakob, gegeben. Ich meine Eretz Jsrael, das Land Israel.«
Auch das hatte Morris Katz schon früher gehört. Reden wie diese wurden immer häufiger geschwungen,
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