Der Tiger im Brunnen
macht unten sauber, aber nicht oben. Das wirst wohl du machen müssen. Aber was hast du eigentlich mit ihm vor?«
»Ich weiß es noch nicht. Erst einmal muss ich an ihn herankommen, sein Vertrauen gewinnen, ihn so einwickeln, dass er sich verliebt zeigt, wie er es bei Lucy getan hat. Ich muss alles über ihn herausfinden – was er für den Herrn tut, wann er seine freien Zeiten hat, welches seine Lieblingsspeisen sind, alles. Alfred, ich vertraue dir – du wirst mich nicht im Stich lassen, oder?«
Er schaute auf sie herab, selbstsicher und überlegen. Dann blinzelte er und trommelte mit dem Finger auf der Nase.
»Verlass dich auf mich«, sagte er.
Bevor sie ging, tat Sally etwas, was sie früher nicht für möglich gehalten hätte: Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. Es war nur ein flüchtig hingehauchter Kuss, aber er schien eine von ihm gehegte Erwartung zu erfüllen und es kostete sie nichts. Möglicherweise half es aber, Harriet zu retten.
»Mama! Mama!«
Harriet war untröstlich. Rebekka versuchte sie aufzuheben, aber Harriet entwand sich ihr und warf sich auf den zerschlissenen Teppich. Seit sie tags zuvor aufgewacht war und vergeblich ihre Mutter gesucht hatte, zeigte sie abwechselnd hilflose Wut und tränenreiches Misstrauen. Rebekkas Aufgabe wäre leichter gewesen, wenn der Regen aufgehört hätte, denn dann hätten sie in den kleinen Hinterhof gehen können, in dem Morris Katz eine Schaukel für Leah gebaut hatte, als sie noch kleiner war. Doch es regnete unaufhörlich.
Rebekka hatte Harriet Lieder vorgesungen, Bilder gemalt, für sie mit dem hölzernen Hund gespielt. Sie hatte sie auf den Arm genommen und wieder hingelegt, wenn sie endlich einschlief, sie hatte ihr zu essen und zu trinken gegeben, doch Harriets Zorn und Traurigkeit waren mächtig, grenzenlos und abgrundtief.
»Noch nie habe ich ein Kind so schreien hören!«, sagte Leah staunend. »Sie hat Lungen wie eine Primadonna …«
»Was könnte ich bloß tun, damit sie aufhört?«, fragte Rebekka ratlos.
»Mach’s wie sie.«
»Ich hätte gute Lust dazu. Sally hat sie mir anvertraut, damit ich mich um sie kümmere, aber sie heult ja nur. Was für ein Lärm …«
In diesem Augenblick hörten sie eine Stimme im Flur. Kurz darauf trat Mr Katz ein. Es war ungewöhnlich, ihn um diese Stunde in der Wohnung zu sehen.
Doch jetzt stand er vor ihnen und hatte noch nicht einmal seine Uhrmacherschürze abgelegt. Seine tiefe Stimme erfüllte das Zimmer – und sogleich hörte Harriet auf zu weinen.
Mit verheultem Gesicht schaute sie hinauf zu diesem großen Brummbären mit dem schwarzen Bart und der schmutzigen Schürze und er blickte hinab in das kleine trotzige Gesicht mit den bebenden Lippen. Im Nu hatte er sie auf dem Arm.
Zu überrascht, um sich zu wehren, staunte sie ihn an, während fremd klingende, eilig gesprochene Worte aus seinem Mund sprudelten. Was er sagte, musste etwas Ernstes sein, das sah Harriet an seinen Augen. Aber er war stark und bei ihm war sie sicher, das merkte sie an seinen kräftigen Armen und seiner tiefen Stimme.
Dann hörte Mr Katz auf zu sprechen und schaute sie an. Von Kummer und Angst entkräftet und immer noch mit Tränen in den Augen, hatte Harriet doch noch genügend Energie, sich zu fragen, wohin wohl sein Mund verschwunden sein könnte. Sie zog mit dem Händchen an seinem Schnurrbart und schaute nach, ob er noch da war. Als sie ihn gefunden hatte, sah sie, dass er lächelte. Wer hätte das gedacht! Sie schaute auf und blickte in lächelnde Augen. Da konnte sie nicht anders und lächelte zurück.
»Na, Maidele, du hast ja ein beredtes Schweigen!«, sagte der große Mann auf Jiddisch und die gutmütige Bassstimme dröhnte in seiner Brust. Sie konnte es fühlen, wie sie so an ihm lehnte.
Erschöpft tat sie einen tiefen Seufzer und steckte den Daumen in den Mund, den Blick feierlich auf ihn gerichtet.
»Jetzt schaut euch das an!«, empörte sich Mrs Katz. »Ist das nicht ungerecht? Den ganzen gestrigen und heutigen Tag haben sich Leah und Rebekka abgemüht, damit die Kleine aufhört zu heulen, und da kommt er daher, lässt sie mit seinem Schnauzbart spielen und schon hat das Geheule ein Ende.«
»Es hilft nichts, Rebekka«, sagte Leah, »wir müssen uns auch einen Bart wachsen lassen. Aber Papa, weshalb bist du eigentlich nach Hause gekommen?«
»Es gibt Ärger«, sagte Morris Katz. »Isaac Feinbergs Sohn ist gestern in Mile End von ein paar Schlägern angegriffen
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