Der Tiger im Brunnen
einem Herrn, der ein großes Paket aufgab, und vor einer älteren Dame, die Briefmarken kaufen wollte. »Ich versuche jemanden zu finden«, begann sie, »der vor drei Jahren in Portsmouth gewohnt hat. Besteht die Möglichkeit, dass er hier eine Nachsendeadresse hinterlassen hat? Sein Name ist Beech. Mr Beech von der Pfarrei in Southam.«
Der Schalterbeamte seufzte schwer. »Das glaube ich eigentlich nicht. Soll ich einmal nachschauen?«
»Ja, bitte. Deshalb habe ich gefragt.«
Er schaute sie verärgert an und verschwand im Hinterzimmer. Die ältere Dame hatte ihre Briefmarken inzwischen gekauft, an ihre Stelle trat nun ein Mann, der eine Postanweisung haben wollte. Nachdem auch er bedient war, kam der Angestellte wieder. »Keine Spur von einem Beech«, verkündete er mit wässrigem Glanz in den Augen, glücklich, sie so leicht enttäuschen zu können.
»Danke«, sagte Sally, süßlich lächelnd, um ihn aus der Fassung zu bringen, und ging.
Beim Verlassen des Postamts spürte sie plötzlich, wie eine Hand sie am Ärmel berührte.
»Ach, Miss, bitte entschuldigen Sie, aber – «
Es war die ältere Dame mit den Briefmarken.
»Ja?«, sagte Sally auffordernd.
»Ich habe mitbekommen, wonach Sie vorhin gefragt haben. Vielleicht sollte ich mich nicht einmischen, aber ich gehörte früher zu Mr Beechs Gemeinde, und wenn Sie ihn suchen …«
»Das tue ich. Oh, bin ich froh, dass Sie mitgehört haben. Wissen Sie denn, wo er sich aufhält?«
Die Dame schaute sich erst vorsichtig um und trat dann näher heran. Der Duft von Lavendelwasser, gepaart mit dem Geruch von Mottenkugeln aus der Pelzstola der Dame, wehte Sally an.
»Ich glaube, er sitzt im Gefängnis«, flüsterte sie.
»Wirklich? Aber weshalb denn?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen, ich weiß nichts Genaues darüber. Der Himmel sei mein Zeuge, dass ich keineswegs über einen gestrauchelten Menschen den Stab brechen will, aber die Wahrheit will nun einmal an den Tag. Ich habe die St.-Thomas-Gemeinde, ein oder zwei Jahre bevor er … entfernt wurde, verlassen, aber wissen Sie, man hört so manches … Ich habe ihn als einen nervösen Menschen in Erinnerung. So ohne Familie, Junggeselle, das will zu einem Kirchenmann nicht recht passen. Im letzten Jahr, in dem ich zu seiner Gemeinde gehörte, schien es ihm gar nicht gut zu gehen. Wenn die Hand, die einem die Hostie gibt, so merkwürdig zittert, dann ist das schon sehr befremdlich …«
»Und Sie glauben, dass er im Gefängnis ist?«, hakte Sally nach.
»Nun, man hört eben so manches. Nicht dass man alles glauben soll, was einem erzählt wird, aber er verließ seine Gemeinde sehr plötzlich und es hieß, die Kirchenleitung habe alles getan, um die Presse herauszuhalten. Aber meine gute alte Freundin Miss Hyne hat einen Cousin im Innenministerium, und der hat – obwohl die Diskretion in Person – wenig Zweifel daran gelassen, dass Mr Beech jetzt aus dem Blechnapf isst.«
»Nein, so etwas!« Sally tat verblüfft. »Aber wie lautete die Anklage?«
»Darüber ist leider nichts zu erfahren. Freilich besteht kein Zweifel, dass das Kirchensilber (darunter die Schenkung der Familie Crosse, kostbare Gefäße) zum großen Teil verschwunden ist. Nach dem wunderschönen Kelch sucht man bislang vergeblich. Da drängen sich einfach gewisse Schlussfolgerungen auf.«
»Ich verstehe«, sagte Sally. »Tja, ich danke Ihnen vielmals, Mrs …«
»Miss Hall. Sind Sie fremd in Portsmouth?«
Sally löste sich so höflich wie möglich aus der Umgarnung der älteren Dame und behauptete, einer Missionsgesellschaft anzugehören. Mr Beech habe früher einmal den Wunsch geäußert, sich in der Mission zu engagieren, und da sie gerade in der Nähe zu tun hätte … Nein, leider müsse sie die Einladung zum Tee ablehnen, ihr Zug warte auf sie. Nochmals vielen Dank und auf Wiedersehn.
So, dachte Sally, als der Zug unter der blassen Herbstsonne durch die Landschaft von Hampshire dampfte, ein Pfarrer, über dessen Verbleib niemand etwas Genaues weiß und der vielleicht im Gefängnis sitzt, und ein unanfechtbarer Eintrag im Heiratsregister. Irgendjemand musste das von langer Hand geplant haben, noch bevor Harriet geboren war. Irgendjemand hatte so bedächtig ein Netz um sie gewoben, dass sie keinen Verdacht schöpfen konnte, und auf eine günstige Gelegenheit gelauert, um es rasch zuzuziehen.
Sally tastete nach der gedrungenen Form des Revolvers in ihrer Handtasche, zog dann aber die Hand wieder zurück. Nein, jetzt noch nicht.
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