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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Schutzbedürftigkeit entsprang, machte es nur noch grausiger. Aus dem Starken kam Süßes. Sie erinnerte sich an Samsons Rätsel. Aus der Stille kam Gift. Aus dem Dunkel… Aus der Vergangenheit …
    Dann schlief sie ein.
     
    Über Whitechapel und Spitalfields, über Wapping und Mile End regnete es ununterbrochen. Das Regenwasser rauschte durch Rinnsteine und Abflusskanäle, staute sich in Senkgruben und überschwemmte sie.
    In Kneipen und Werkstätten, in Küchen und Wohnstuben ging das Gerücht um, dass es Aufruhr geben werde.
    Schauerleute, Hilfskräfte in Fabriken und Brauereien, Arbeiter in Lagerhäusern und Gerbereien, Matrosen ohne Heuer, Gelegenheitsarbeiter und alle, die sich aus irgendeinem Grund betrogen und beraubt fühlten, aus ihrer Stellung, ihrem Heim oder ihrem gewohnten Milieu vertrieben worden waren … unter all diese Menschen mischten sich Parrishs Leute, spendierten eine Runde, hörten geduldig zu und verbreiteten ihr Gift.
    Die Juden lassen sich’s gut gehen.
    Sie bringen ihre Schäfchen ins Trockene …
    Sie haben den Markt fest in der Hand.
    Krankheiten. Sie verbreiten Krankheiten … Ihre Frauen tragen das Übel im Leib.
    Mit jedem Schiff, das ankommt, werden sie mehr …
    Wer ins Judenviertel am Ende der Brick Lane geht, sieht über eine Stunde lang kein sauberes englisches Gesicht. In Hanbury Street und Fashion Street sieht es genauso aus; Flower und Dean Street …
    In Ungarn gab es einen Fall – es stand in der Zeitung –, da haben sie ein Christenmädchen gestohlen, umgebracht und das Blut für ihre Rituale verwendet. Das ist die Wahrheit – es gibt Zeugen – die Täter haben gestanden –
    Einen ähnlichen Fall gab es auch in Deutschland.
    Christenkinder? Die haben sie umgebracht?
    Solche Fälle hat es immer wieder gegeben.
    In der Montagu Street gibt es eine Jüdin mit einem gestohlenen Kind.
    Ach komm …
    Wenn ich es doch sage. Das Kind ist nie im Leben jüdisch, nicht mit so blondem Haar …
    »Montagu Street?«, fragte Parrish nach. Er war in einem Gasthaus an der Whitechapel Road, einem mahagonigetäfelten Etablissement mit blinkenden Messingbeschlägen, glänzenden Spiegeln und aufgetakelten Barfrauen. Parrish stand in Schwaden dicken Zigarrenrauchs und gab Runden aus.
    »Ja doch«, brachte sein Informant mühsam hervor. Nach dem achten Bier war ihm die Zunge schon etwas schwer geworden.
    »Haben Sie das Kind gesehen? Was ist es denn eigentlich, Junge oder Mädchen?«
    »Meine Alte hat’s gesehen. Ist ’n Mädchen, sagt sie. Heult die ganze Zeit. Das zeigt doch, dass man’s gestohlen hat.«
    »Kennt sich Ihre Frau in der Straße aus?«
    »Sollte sie. Ist da geboren. Bevor das Judenpack kam. Sie ist gestern da langspaziert und hört plötzlich das Kind plärren. Schmuckes Häuschen übrigens, frisch gestrichen, saubere Vorhänge – da steckt ’ne Menge Geld drin. Die haben’s dicke, was?«
    »Die leben sicher wie die Maden im Speck«, sagte Mr Parrish. »Aber erzählen Sie mir mehr von dem Kind.«
    »Ach so, ja. Also meine Alte hört das Kind plärren und schaut durchs Fenster und da sieht sie es: ein hübsches kleines Goldköpfchen. Wehrt sich gegen so ’ne dunkle Tochter Israels, die es festhält. Die sieht, dass meine Alte reinschaut, und schafft das Kind schnell vom Fenster weg. Es muss gestohlen worden sein. Natürlich wusste meine Alte noch nichts von diesen Ritualen … Stimmt das denn?«
    »Es würde mich nicht überraschen. Welche Hausnummer war das?«
    »O Mann, das weiß ich nicht. Schickes Häuschen. Blumen im Fenster. Schätze, die verdienen an jedem von uns … Ich kann sie nicht ausstehen. Tja, ich könnt noch ’n Bier vertragen, Meister.«
     
    Als die letzten Teilnehmer das Tabaklagerhaus verließen, bat Goldberg Kid Mendel und Moishe Lipman, noch einen Augenblick zu warten. Bill blieb ebenfalls, und als Goldberg sicher war, dass keiner sie belauschte, bot er jedem eine Zigarre an und sagte: »Gentlemen, es gibt noch ein weiteres Problem. Ich wollte die Versammlung nicht damit belasten. Ich setze in dieser Angelegenheit auf Ihre besondere Sachkenntnis.«
    Die beiden Gangsterbosse sagten nichts. Beide konnten verschiedener nicht sein: Der weltgewandte, elegante Mendel mit der beginnenden Stirnglatze war nach der neuesten Mode gekleidet und sah aus wie ein Fürst auf Ferienreise; Moishe Lipman, der in seiner Jugend einmal Jahrmarktboxer gewesen war, hätte beim Probespielen in einem Vorstadttheater gute Chancen gehabt, die Rolle von Frankensteins

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