Der Tiger im Brunnen
ins Jiddische und Russische.
»Gentlemen, ich habe Sie hierher zusammengerufen, weil wir angesichts der Feindseligkeit, die um uns herum bedrohlich anwächst, sehr rasch zu einem Entschluss kommen müssen. Wir wissen, dass es zu einem Ausbruch der Gewalt kommen wird, seit Wochen gibt es Anzeichen dafür. Wir müssen uns entscheiden, wie wir dem begegnen wollen. Unsere Entscheidung wird weit reichende Folgen für unser aller Leben haben.
Wenn Sie sich umschauen, sehen Sie Männer, die Sie kennen, und solche, die Sie nicht kennen, Männer, denen Sie vertrauen, und solche, denen Sie lieber aus dem Weg gehen würden. In diesem Raum gibt es Kapitalisten und Sozialisten, jene, die für die Rückkehr aller Juden nach Palästina eintreten, und jene, die es in London zu Wohlstand gebracht haben. Unsere einzige Gemeinsamkeit besteht darin, dass wir Juden sind.
Allein darauf kommt es in diesem Augenblick an, denn deswegen will man uns angreifen. Sie haben alle persönlichen Vorlieben hintangestellt und sind zu dieser Besprechung gekommen, und ich freue mich, Sie alle hier zu sehen. Zu Anfang wollen wir kurz unsere Beobachtungen vergleichen, was den Stand der Dinge in unseren verschiedenen Wirkungsbereichen betrifft. Dann müssen wir uns entscheiden, was wir unternehmen. Würden Sie vielleicht beginnen, Mr Mendel?«
»Mit Vergnügen, Dan«, sagte Kid Mendel. »Aber ich habe zuerst eine Frage an Sie. Sie sind kein Narr, und alle hier Versammelten wissen, dass auf Ihren Kopf eine Belohnung ausgesetzt ist. Wie können Sie sicher sein, dass keiner von uns Sie an die Polizei verrät, sobald wir diesen Raum verlassen haben?«
Goldberg lächelte und blickte unschuldig drein.
»Wissen Sie, dass ich daran überhaupt nicht gedacht hatte?«, sagte er. Freilich nahm ihm das keiner auch nur einen Augenblick lang ab. »Ich sag Ihnen was, Mr Mendel: Wenn Sie wissen, wer mich verraten will, bitten Sie ihn, den Raum zu verlassen. Ich sage den Übrigen, wie ich ihm einen Strich durch die Rechnung machen werde. Dann kann er wieder hereinkommen und wir können ernsthaft beginnen.«
Die ganze Runde grinste, am breitesten Kid Mendel. Er nickte.
»Gut«, sagte er. »Ich gehe davon aus, dass ich meinen jüdischen Kameraden vertrauen kann, selbst den gesetzestreuen. Die Situation in Soho ist folgende …«
Sally war diese Nacht zu müde, um weitere Forschungsreisen zu unternehmen. Stattdessen lag sie im Bett, hörte Eliza leise schnarchen und ging in Gedanken durch, was sie bisher herausgefunden hatte.
Erstens, die Sache mit dem Lakaien. Es war verrückt von ihr gewesen, sich so leichtsinnig der Gefahr auszusetzen, enttarnt zu werden, doch wenn die anderen glaubten, ihr eigentliches Ziel sei Michelet, würde ihnen Sallys Wissbegierde hinsichtlich des Zaddik nicht weiter verdächtig erscheinen. Sie würden denken, sie suche über ihn nur einen Weg, an Michelet heranzukommen. Alles in allem hatte sie diese Begegnung nach einem Augenblick der Panik glimpflich überstanden.
Zweitens, Michelet selbst. Jedes Mal, wenn sie ihn nun sah, musste sie an die Worte des Sekretärs denken: Michelet sei wegen eines Verbrechens an Kindern verurteilt worden.
Vorstellungen davon, was das wohl gewesen sein könnte, vermischten sich mit Bildern von Harriet und bedrängten sie immer wieder.
Drittens, der Sekretär und die Räume im zweiten Stock. Dort musste sie sich als Nächstes umsehen.
Viertens, die Angelegenheit, bei der sie den Zaddik und Parrish belauscht hatte. Der Zaddik wollte einen Aufruhr anzetteln – einen Angriff auf die Juden – und Gewaltexzesse ungekannten Ausmaßes provozieren … Sally hatte das Gefühl, sie würde erdrutschartig den Boden unter den Füßen verlieren; und alles, was sie tun konnte, war, ein paar Kieselsteine zurückzuhalten.
Doch der Schlüssel zu allem lag irgendwie in diesem aufgedunsenen, gelähmten Körper, dem Zaddik. Seinem kriminellen Treiben konnte man nur dadurch begegnen, dass man herausfand, wer er war – oder wer er darüber hinaus war; um das herauszubekommen, musste sie zunächst dem Komplott gegen sie und Harriet auf den Grund gehen. Warum hatte er gerade sie aus den Tausenden lediger Frauen mit Kind ausgesucht, die es in London gab? Er war so unnahbar und so geheimnisumwittert, dass sie, selbst wenn sie dicht neben ihm stand und ihm die Tasse an die Lippen führte, nichts anderes spürte als Hilflosigkeit. Die Vorstellung, dass das Böse, das sie zum Opfer auserkoren hatte, dieser geradezu kindlichen
Weitere Kostenlose Bücher