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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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vor allem in Kreisen osteuropäischer Juden. Entgegen der Ansicht, die er gegenüber seiner Frau vertreten hatte, war sich Mr Katz nicht sicher, was er von diesem Thema halten sollte, deshalb suchte er nach Argumenten und verfolgte gern entsprechende Diskussionen.
    »Aber … wir haben uns jetzt hier niedergelassen«, sagte einer der Versammelten. »Wir haben hier unsere Geschäfte, unsere Familien. Und wovon sollten wir in Eretz Jsrael leben? Ich bin kein Bauer …«
    »Nein, unser Gast hat Recht«, widersprach ein anderer. »Du kannst hier geboren sein und sterben und dennoch wird dich keiner hier als Engländer ansehen – du wirst immer Jude bleiben – ein Fremder – «
    »Das Gleiche gilt für Deutschland – «
    »Das Gleiche gilt für überall!«
    »Moment!«, meldete sich ein anderer mit einem Einwand. »Jede Nation hat ihre eigene Sprache. Richtig? Das ist ein Merkmal, das zu jeder Nation gehört. Welche Sprache soll dann deine jüdische Nation sprechen? Jiddisch? Deutsch? Polnisch?«
    »Hebräisch«, sagte der junge Mann.
    Achselzucken, Nicken, Kopfschütteln und ein Dutzend Stimmen, die durcheinandersprachen. Verwirrt hörte Morris Katz nur noch mit halbem Ohr zu. Er wusste, dass Dan Goldberg gegen dieses Argument ein Dutzend Gegenargumente ins Feld führen könnte. Aber Goldberg war nicht hier und missionarische Redner wie dieser junge Mann fanden immer häufiger Zustimmung.
    Der Versammlungsraum war eng und dunkel, außerdem überheizt und stickig wegen der Wärme, die aus dem großen gusseisernen Ofen in der Ecke kam. Morris Katz hatte nicht vor, länger zu bleiben, und wollte gerade gehen, als das Geräusch von klirrendem Glas alle aufschreckte.
    Die Gespräche verstummten. Die Redner waren wie erstarrt. Auf dem Boden zu ihren Füßen lagen Glasscherben und ein Ziegelstein, auf den mit Kreide die Worte JUDEN RAUS geschrieben waren.
    Erst nach einer Weile fassten sich die Männer wieder. Diejenigen, die in der Nähe des Fensters standen, darunter auch Morris Katz, sprangen auf und schauten durch den Regen nach draußen. Auf der anderen Straßenseite sah man im Schein einer Gaslaterne zwei junge Männer, die eine obszöne Geste machten und dann lachend wegliefen.
    Zwei Männer aus der Versammlung eilten zur Tür und versuchten die Täter noch einzuholen, andere griffen zu Besen und Kehrschaufel, um die Scherben aufzufegen, oder machten sich auf die Suche nach einem Karton, um damit notdürftig die Fensteröffnung zu schließen. Mitten in diesem Treiben traf Morris Katz’ Blick plötzlich die Augen des Gastredners. Der junge Mann schaute entschlossen, erschrocken und triumphierend zugleich.
    »Nun?«, sagte er. »Es geht los, Morris Katz. Auch du musst dich entscheiden. Bist du für uns oder gegen uns? Die Lage wird nicht besser, sondern schlechter. Bist du dafür, dass auch die Juden ein Land bekommen, oder willst du, dass sie untergehen?«
    Morris Katz antwortete nicht. Er fühlte, dass man sich die Wahl nicht so leicht machen konnte. Er mochte dieses simple Entweder-oder nicht. Mehr denn je wünschte er, Dan Goldberg wäre hier und würde ihnen helfen die Wahrheit zu erkennen.

 
Der Eintrag im Hauptbuch
     
     
    Am selben Abend hielt Goldberg eine Besprechung im vierten Stock eines Tabaklagerhauses in Wapping ab. Er hatte diesen Raum schon einmal benutzt; eine 20-Shilling-Münze für den Nachtwächter und das Lagerhaus gehörte ihm. Wenn man die Fenster mit Sackleinen verhängte, war von der Straße aus nichts zu erkennen. Vorausgesetzt, dass keiner aus Versehen ein Streichholz fallen ließ und das Lagerhaus in Brand setzte, war man hier absolut sicher.
    Kid Mendel, der Gangsterboss aus Soho, war mit von der Partie, ebenso Moishe Lipman, der Anführer der jüdischen Gangs von Bethnal Green; neben weiteren Repräsentanten der jüdischen Gemeinden war auch der junge Russe aus dem Kreise der Zionisten anwesend, obgleich er sich in dieser Gesellschaft sichtlich unwohl fühlte. Einige der aufrechtesten Sozialisten waren gekommen sowie Reuben Singer und Bill – alles in allem zwanzig Männer, die sich unruhig aus den Augenwinkeln beobachteten, während sie auf Goldbergs Eröffnungsworte warteten. Unruhig alle, bis auf Kid Mendel, der, ein Bein über das andere geschlagen, auf einem Ballen Tabakblätter saß und sich mit weltmännischer Lässigkeit umsah.
    Als alle eingetroffen waren, hielt Goldberg seine Ansprache. Er redete zunächst auf Englisch und übersetzte die entscheidenden Passagen dann

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