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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Winterhalter war beim Waschen und Verbinden vorher nie zugegen gewesen und war entsetzt über das Ausmaß der Wunden: neue, die sich in alte fraßen, Krusten, Schorf und Eiter an den Stellen, auf denen der schwere Körper des Mannes den ganzen Tag über gelastet hatte.
    Zum Abschluss puderte Michelet den gesamten Körper ein.
    »Nun verlassen Sie bitte den Raum, Winterhalter«, befahl der Zaddik. »Ich möchte mich erleichtern.«
    Als Winterhalter zurückkam, war Michelet gerade dabei, seinem Herrn seidene Unterwäsche anzuziehen. Mit großem Geschick betätigte der Leibdiener die Hebevorrichtung und bewegte den Gelähmten damit so leicht wie eine Amme ihren Säugling. Auch zeigte er die gleiche enge Vertrautheit mit dem ihm Anbefohlenen. Er scherzte mit ihm und erlaubte sich sogar, ihn ein wenig zu necken. Ein Verletzter kümmert sich um den anderen, ungleich schwerer vom Schicksal geschlagenen. Wie sehr sich die beiden doch brauchen, dachte Winterhalter, wie diese kleinen Vögel, die den Krokodilen die Speisereste zwischen den Zähnen herauspicken. Der Zaddik demonstrierte bei alledem Würde, selbst in peinlichen Augenblicken bewahrte er Gleichmut und Selbstbeherrschung, während Michelet sich vollkommen unterwürfig zeigte.
    Wie schon viele Male vorher fragte sich Winterhalter, was wohl mit dem Kind geschehen würde. Es war schwer vorherzusagen. Sicher brauchte der Herr jemanden, der diese niederen Tätigkeiten für ihn ausführte, aber ebenso sicher würde das die Kräfte des Kindes noch mehrere Jahre lang übersteigen. Doch einmal würde der Zeitpunkt kommen, an dem das Kind diese Fähigkeit erreicht haben und ebenso nützlich sein würde wie der Affe. Wer dann die Macht über das Kind hatte, der hielt den Schlüssel zu allem anderen in Händen. Nein, er konnte es sich nicht leisten, das Kind in Michelets Obhut zu geben. An diesem Mann war etwas Krankhaftes und Unheimliches. Besser, man verzichtete auf ihn. Der Sekretär machte sich im Geiste die Notiz, demnächst ein Büro für die Vermittlung von geeignetem Pflegepersonal einzuschalten.
    Er schob den Rollstuhl an die Stelle neben dem Bett, die Michelet ihm angewiesen hatte, und mit Hilfe des Krans hievten sie den Zaddik gemeinsam in den Stuhl.
    Zum Abschluss nahm Michelet ein Gefäß mit Pomade von der Frisierkommode, verteilte etwas davon auf seinen Handflächen und glättete damit das rötliche Haar des Zaddik, bevor er es in Form kämmte.
    Nach getaner Arbeit rieb er sich die Hände sauber, band dem Zaddik das Halstuch um und legte ihm die Wolldecke über die Beine. Dann begann er mit schmerzverzerrtem Gesicht zu wimmern und fasste sich mit der Hand an den Kopfverband.
    »Bitte, Sir, darf ich mich wieder hinlegen? Mein Auge tut mir so weh …«
    »Später. Jetzt bringst du mich in den Keller. Danke, Winterhalter, ich brauche Sie heute Nacht nicht mehr.«
    Der Sekretär verbeugte sich steif und zog sich zurück.
    Michelet öffnete die Flügeltüren und schob den Rollstuhl vor den Lift. Dann öffnete er die Aufzugstür. Im ganzen Haus herrschte Stille, während sie langsam hinunter in den Keller fuhren, wo Sally im Dunkeln lag.
     
    Der Polizeiwagen verlangsamte seine Fahrt. Tony, der ältere der beiden Jungen, die hinten auf dem Trittbrett standen, sagte zu seinem Gefährten: »Aufgepasst! Gleich geht’s los.«
    Als der Wagen anhielt, sprangen die beiden ab und gingen in Deckung. Tony lauerte auf eine günstige Gelegenheit.
    Der Schriftzug POLIZEI leuchtete blau über dem Eingang der Wache, zu dem ein paar Stufen führten. Solange der diensthabende Sergeant nicht herauskam und sich umschaute … Nein, dazu war es viel zu nass; er blieb lieber mit einer Tasse Kakao neben dem Ofen.
    Die Wagentür ging auf. Con hielt die nasse, raue Kante des Rades fest und war bereit, im nächsten Augenblick loszuschnellen. Noch ein, zwei Sekunden –
    »Los!«, rief Tony. Beide starteten wie Windhunde, schnappten nach den Beinen der völlig überraschten Polizisten und brachten sie zu Fall.
    Goldberg fand sich plötzlich als Einziger aufrecht und frei.
    »Renn doch, Mann!«, schrie Con, ehe eine schwere Polizistenhand ihn am Schopf packte und eine andere nach seinem Arm griff.
    Doch Con verstand sich zu wehren. Er grub seine Zähne in die Hand der Ordnungskraft, die ihn sogleich unter einem Schmerzensschrei losließ.
    Beide Jungen waren im Nu wieder auf den Beinen und erreichten zusammen mit Goldberg die nächsten Straßenecke. Sie verschwanden in der Dunkelheit, noch ehe

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