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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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schließlich.
    Mit starrem Blick schaute er durch den Regen. Dieser Regen … Reißende Wassermassen rauschten die Gosse hinunter, man konnte kaum den Gehsteig von der Straße unterscheiden. An einer Stelle staute es sich, weil etwas im Weg war, ein Hundekadaver oder sonstiger Abfall. Ein Strudel bildete sich, der alles an sich sog wie die Stromschnellen des Peco River in der Geschichte von Dick aus dem finsteren Tann, die sich Moishe in seinen abendlichen Mußestunden von einem seiner Jungen vorlesen ließ. Schlamm, Schaum und Abfall aller Art wurden mitgerissen wie Dicks Floß …
    Die Haustür ging auf. Moishe blinzelte und tippte dem Mann, der ihm gegenübersaß, aufs Knie.
    »Aufwachen«, sagte er. »Schau mal da drüben.«
    Der andere fuhr aus dem Halbschlaf auf und lehnte sich ans Fenster vor. Zwei Gestalten waren im Hauseingang zu erkennen, die eine in Regenmantel und mit einem Südwester auf dem Kopf, die andere in etwas, das wie ein Morgenrock aussah.
    Der Regenmantel ging los, aber der Morgenrock rief ihn zurück und sagte ihm kurz etwas. Regenmantel machte sich mit hochgeschlagenem Kragen wieder auf den Weg, Morgenrock schloss die Tür.
    »Schnappt ihn euch«, befahl Moishe.
    Sofort sprangen drei Männer aus der Kutsche. Regenmantel schaute weder nach rechts noch nach links, sondern eilte mit gesenktem Kopf durch den Regen. Das prasselnde Geräusch auf seinem Südwester übertönte die Schritte, die ihm folgten. Nicht lange, da hatten die Männer ihn eingeholt.
    Lipman hatte angeordnet, dass die Kutsche im Schritttempo folgen sollte. Keine Minute nach dem Verlassen des Hauses lag Regenmantel zappelnd auf dem Boden der Kutsche. Als man ihm den Südwester vom Kopf nahm, hätte Sally ihn erkannt: Es war der Sekretär, Herr Winterhalter.
    »Wer sind Sie? Was wollen Sie?«, sagte er.
    »Das tut nichts zur Sache«, sagte Lipman. »Was geht da drinnen vor?«
    Winterhalter schaute ihn verblüfft an. »Wie können Sie es wagen? Was wollen Sie von mir?«
    »Beantworten Sie meine Frage«, sagte Lipman. »Was geht in dem Haus dort vor?«
    »Wie könnte ich eine solche Frage beantworten? Sie müssen ein außerordentlich dummer Mensch sein. Lassen Sie mich augenblicklich gehen – «
    Er wollte sich losreißen. Lipman stieß ihn zurück.
    »Ist das Kind dadrin?«, wollte er wissen.
    Winterhalter verstummte. In seinen Augen spiegelte sich eine Ahnung von dem, was hier gespielt wurde.
    »Ah, ich verstehe. Nun ist mir alles klar«, sagte er. Lipman beobachtete ihn genau. »Ich glaube, es wäre das Beste, wenn Sie direkt mit meinem Herrn sprechen. Ich bin nur sein Privatsekretär. Ich bin sicher, dass – «
    »Das reicht«, unterbrach ihn Lipman. »Was machen Sie hier draußen? Wohin wollten Sie gehen?«
    »Einen Arzt holen«, sagte Winterhalter in mildem Ton. »Ein Diener hat sich bei einem Unfall im Haus schwer verletzt.«
    »Warum hat man nicht einen anderen Diener geschickt? Warum gerade Sie und noch dazu bei solch einem Wetter?«
    »Weil ich zufällig noch wach und angekleidet war. Erlauben Sie mir zweierlei: Erstens, dass ich zu meinem Herrn gehe und ihm Ihr Anliegen mitteile. Es wird ihm eine Freude sein, Ihnen alle das Kind betreffenden Fragen zu beantworten. Und zweitens, dass ich meinen Gang zum Arzt fortsetzen kann. Zwar geht es nicht um Leben und Tod, aber der Verletzte muss gravierende Folgen für sein Augenlicht fürchten. Ich bin sicher, dass Sie das nicht auf Ihr Gewissen laden wollen.«
    Moishe Lipman war verwirrt. Er hatte etwas falsch gemacht, wusste aber nicht genau, was, und auch nicht, wie er es ungeschehen machen konnte. Es wäre besser gewesen, dem Mann heimlich zu folgen, statt ihn zu überfallen. Zu spät.
    Allerdings könnte er, wenn er den Mann tun ließ, was dieser vorgeschlagen hatte, kampflos ins Haus gelangen. Das wiederum gäbe seinen Männern die Gelegenheit, sich umzusehen. Nicht einmal Kid Mendel hätte das so sauber hingekriegt. Das war wirklich raffiniert.
    »Einverstanden«, sagte er. »Sie berichten Ihrem Herrn, dass wir auf eine Unterhaltung vorbeikommen. Danach können Sie den Arzt holen gehen.«
    Winterhalter nickte und setzte seinen Südwester wieder auf.
    »Sie werden verstehen, dass mein Herr ein paar Minuten braucht, bis er angekleidet und bereit ist, Sie zu empfangen.«
    »Schon recht«, sagte Lipman. »Aber keine Tricks, klar?«
    »Aber nein, aber nein«, versprach Winterhalter.
    Er stieg aus der Kutsche und ging ins Haus zurück.
    Kaum war er weg, wagte einer der

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