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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Morgenstunden war dies das belebteste Viertel ganz Londons.
    Doch auch in Whitechapel waren bereits viele Leute auf den Beinen. Der Bäcker in der Holywell Street heizte gerade seinen Backofen ein. Parrishs Schläger rotteten sich im Dunkeln zusammen. Goldberg beschleunigte seine Schritte und hoffte, noch rechtzeitig einzutreffen.
     
    Sally hörte das Summen der Hydraulik und setzte sich auf. Es war nicht völlig dunkel; ein schwacher Lichtschein fiel durch den Aufzugschacht herein. An dem Schatten, der nun über den Boden huschte, erkannte sie, dass der Aufzug herabkam.
    Gleich nachdem sie in den Keller geworfen worden war, hatte sie die Wände abgetastet. Der Raum war leer; der Tisch und die Stühle, an die sie sich von ihrem früheren Besuch erinnerte, waren weggeräumt. Es gab nichts außer dem Aufzugschacht, der Tür zur Treppe und der Tür, die in den Nebenraum führte. Beide waren abgesperrt.
    Sally befühlte ihren Strumpf; das Papier war immer noch darin. Sie strich den Mantel über dem Schoß glatt und setzte sich so gerade wie möglich hin.
    Der Aufzug erreichte den Boden und Licht ergoss sich durch die Gittertür in den Raum. Die Hydraulik kam mit einem leisen Seufzer zum Stillstand, dann ging rasselnd die Tür auf. Sally beobachtete, wie Michelet den Rollstuhl aus dem Lift schob.
    Ah Ling schaute sich um.
    »Das ist das erste Mal, dass ich in meinen Keller komme. Was ist das für ein Geräusch?«
    Michelet hob den Kopf und horchte. Es war dasselbe Geräusch, das Sally zuvor schon gehört hatte, ein unterirdisches Rauschen, nun aber viel deutlicher, lauter und näher.
    »Ich weiß es nicht, Sir«, sagte Michelet.
    Im schwankenden Licht der Lampe, die er in der Hand hielt, wirkte das Gesicht des Leibdieners totenblass. Der Morgenrock und der Verband über dem verletzten Auge verliehen ihm das Aussehen eines Toten im Leichentuch. Und einen Augenblick schien es Sally, als sähe sie mit ihm zugleich eine ganze Prozession ähnlicher Gestalten, all die Toten von Spitalfields, all die Verblichenen der vergangenen Jahrhunderte – unter der Erde, wie sie auch.
    Sie blickte in die Augen von Ah Ling, Henry Lee, dem Zaddik.
    »Ich hatte Zeit zum Nachdenken«, sagte er. »Schon seit Jahren stelle ich mir diesen Augenblick vor, doch auch diese weitere Stunde des Nachdenkens war beileibe keine Zeitvergeudung. Sie sind eine sehr kluge und einfallsreiche Frau, Miss Lockhart.«
    »Ich wünschte, es wäre ein glaubwürdigerer Zeuge als dieser Mann da anwesend, um das aus Ihrem Mund zu hören«, sagte sie.
    »So? Warum?«
    »Weil Sie mich zweimal Miss Lockhart und nicht Mrs Parrish genannt haben. Ich würde Sie gern vor Gericht als Zeugen gegen ihn aufrufen.«
    Er lächelte. »Oh, Parrish, der ist entbehrlich. Wir werden einen Weg finden, um ihn loszuwerden.«
    »Sie haben noch keinen Weg gefunden, mich loszuwerden. Oder sind Sie deswegen heruntergekommen?«
    »Nein. Wie ich bereits sagte, habe ich ungefähr eine Stunde darüber nachgedacht. Wie haben Sie meine Adresse herausgefunden?«
    »Mit Hilfe eines Mädchens, das Ihnen von Moskau bis hierher gefolgt ist.«
    »Ich verstehe. Und was wollten Sie vor einer Stunde in meinem Schlafzimmer?«
    »Herausfinden, ob Sie tatsächlich der Mann sind, für den ich Sie hielt.«
    »Und wenn Sie keine Narbe, keine Einschussstelle gefunden hätten?«
    Sally schwieg und wurde sich bewusst, wie lange sie es schon geahnt und wie lange sie es verdrängt hatte.
    »Nun«, sagte er, »ich habe ein paar Fragen an Sie, Miss Lockhart. Als Erstes – «
    »Ich habe ebenfalls ein paar Fragen an Sie. Warum verfolgen Sie die Juden?«
    »Einer muss es tun.«
    »Was für eine dumme Antwort.«
    »Es war eine dumme Frage.«
    »Es war eine gute Frage. Warum tun Sie es also?«
    »Weil mir diese Leute gerade recht kommen. Weil sie so eine leichte Beute sind. Weil keiner Einspruch dagegen erhebt. Ich frage mich gerade, was Sie in der Maske des Hausmädchens – Kemp war Ihr Name, oder? – wohl alles belauscht haben könnten …«
    »Ich habe genug gehört, um beurteilen zu können, wann Sie mir die Wahrheit sagen.«
    »Sie sind nicht im Stande, irgendein Urteil abzugeben.«
    »Dazu bin ich sehr wohl im Stande, mehr als jeder andere. Ich gehe davon aus, dass ich bald sterben werde; wovor sollte ich also noch Angst haben? Ich sehe Sie nun klar und deutlich, Mr Lee, Ah Ling, Hendrik van Eeden, Mr Eliot, Mr Todd, und welche Namen sie sonst noch tragen mögen. Erinnern Sie sich an die beiden letzten? Sie haben

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