Der Tiger im Brunnen
Männer vorsichtig zu fragen: »Wird er nicht versuchen die Bullen zu benachrichtigen?«
»Wie denn?«, fragte Lipman. »Etwa mit Brieftauben?«
Alle lachten pflichtschuldigst und Lipman machte die Bemerkung noch einmal, damit auch alle die Pointe mitbekamen. Doch als fünf Minuten später wirklich die Polizei kam, lachte keiner mehr.
»Also hat Parrish das Kind«, sagte der Zaddik zu Winterhalter. »Natürlich. Und diese dümmlichen Ganoven haben das Haus beobachtet, für den Fall, dass er es hierhergebracht hätte … Folglich wissen sie, dass er das Kind hat, aber sie wissen nicht, wo er sich aufhält. Wenn sie aber so dumm wären, wie Sie, Winterhalter, behaupten, woher kennen sie dann diese Adresse? Sie müssen in Verbindung mit der Lockhart stehen.«
»Von ihr haben sie nicht geredet«, sagte Winterhalter. »Möglicherweise gibt es eine Person im Hintergrund, die die Fäden zieht.«
»Vielleicht Goldberg …«
»Es waren Juden.«
»In dem Fall steckt sicherlich Goldberg dahinter. Nun, das ändert die Sache, Winterhalter. Parrish hat das Kind, bringt es aber nicht hierher; er verspricht sich also ein Geschäft davon. Dann hat es keinen Zweck, dass Sie ihn jetzt aufsuchen. Wir können Ihnen einen Weg im strömenden Regen ersparen und Parrish zu mir kommen lassen. Ist die Polizei schon da?«
Winterhalter schaute aus dem Fenster.
»Sie bringen sie gerade weg, Mr Lee«, sagte er.
»Ausgezeichnet. Wie gut lebt es sich doch, wenn man Steuern zahlt und dafür den Schutz der Polizei genießt. Nun, wenn Parrish das Kind hat, habe ich die Mutter. Ich will nach unten gehen und ihr ein paar Fragen stellen. Rufen Sie bitte Michelet herein.«
»Dr. Strauss sagte, sein Auge brauche Ruhe, Sir …«
»Rufen Sie ihn! Ich brauche ihn!«
Winterhalter ging nach nebenan in das Zimmer des Leibdieners. Michelet stöhnte und setzte sich auf.
»Ich habe es schon gehört … Also gut, ich soll kommen … Wie spät ist es denn, Herr Winterhalter? Ich kann meine Uhr nicht lesen …«
»Zwei Uhr nachts. Ich habe Verständnis für Ihr Leiden, Michelet, aber Dr. Strauss hat alles Notwendige getan und nun braucht Mr Lee Ihre Hilfe.«
Erbärmlich zitternd, zog Michelet seinen Schlafrock an.
»Ich schaffe es nicht allein … Ein Diener muss mir helfen …«
»Ich werde Ihnen helfen. Mr Lee möchte sich in den Keller begeben. Dazu braucht er auf jeden Fall Ihre Begleitung.«
Michelets gesundes, blutunterlaufenes Auge blickte verwundert unter dem Kopfverband zu Winterhalter hinüber, doch dessen Miene verriet nichts. Der Leibdiener benetzte seine Lippen und ging in das Zimmer seines Herrn.
»Ja, Mr Lee? Wollen Sie sich ganz ankleiden? Soll ich Sie vorher rasieren? Es ist noch sehr früh, aber Sie werden sich danach frischer fühlen …«
»Zeig mir erst deine Hände.«
Der Leibdiener streckte sie ihm hin. Sie zitterten gewaltig.
»Nein. Du kannst mich später rasieren. Jetzt wäschst du mich und kleidest mich an.«
»Wie Sie wünschen, Sir«, sagte Michelet. Er seufzte tief, ein Bild des Jammers, und zog die Bettdecke fort.
Unter dem untersten Laken verliefen drei Lederschlingen von einer Seite des Bettes zur anderen. An ihrem Ende befanden sich Seile, die wiederum mit Haken versehen waren und von den Bettbehängen verdeckt wurden. Michelet zog sie hervor und hakte die Enden der vorderen Schlinge in einen Flaschenzug ein, der oben am Stahlrahmen angebracht war. Dann betätigte er eine Kurbel am Kopfteil des Bettes. Das Seil straffte sich und nach und nach wurde der Oberkörper des Zaddik aufgerichtet.
Michelet arretierte den Flaschenzug und zog dem Zaddik das Nachthemd aus. Dann befestigte er die anderen Schlingen an ähnlichen Flaschenzügen und bewegte sie, bis der massige Körper ganz aus dem Bett gehoben war. Er breitete ein Gummilaken über dem Lager aus, dann goss er warmes Wasser in eine Waschschüssel.
Als Michelet später seinen Herrn wieder auf das Bett herunterlassen wollte, sagte dieser: »Winterhalter, eine kandierte Marone.«
Der Sekretär fand die Schachtel neben dem Bett und schob das klebrige Naschwerk mit einer Silberzange in den Mund des Gelähmten.
Der Zaddik kaute die süße Kugel langsam und genüsslich, während ihn Michelet von Kopf bis Fuß wusch. Der Leibdiener drehte und hob ihn mit Hilfe der Schlingen und Flaschenzüge und versorgte die wunden Stellen an Oberschenkeln und Gesäß. Er nahm die Verbände ab, wusch das durchgelegene Fleisch, trocknete es und legte neue Verbände an.
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