Der Tiger im Brunnen
sobald die Polizei den Juden da abgeholt hat. Ist der übrigens sicher in der Küche verstaut?«
Eine andere Stimme sagte etwas Unverständliches, dann folgte Gelächter. Parrish war wieder obenauf. Dass er mit einem Nachttopf niedergestreckt worden war, schien seiner Autorität keinen Abbruch getan zu haben. Goldberg schaute sich um. Er sah Stuhl- und Tischbeine und einen Kohleneimer, aber nichts, was ihm als Waffe hätte dienen können. Konnte er aufstehen? Hier irgendwo ein Messer finden? Oder auch nur einen Besenstiel?
Er bewegte sich und hätte beinahe laut aufgestöhnt. Doch dann wurde donnernd an die Haustür geklopft und ein Mann beeilte sich zu öffnen. Es war die Polizei.
Goldberg zog sich mühsam nach oben, bevor andere das für ihn erledigten. Ein Sergeant und zwei Constables waren mit einer Polizeikutsche gekommen. Laternen – Schlagstöcke – Erklärungen, Anklagen – Handschellen.
Hier schüttelte Goldberg den Kopf.
»Ich komme freiwillig mit«, sagte er zu dem Sergeanten, »wäre Ihnen aber sehr dankbar, wenn Sie mir die Handschellen ersparen, ich bin nämlich verletzt.«
Mit der rechten Hand hielt er die mit Blut beschmierte linke auf eine Art, die vermuten ließ, das Handgelenk sei gebrochen. Der Sergeant nickte.
»In Ordnung«, sagte er zu dem Constable mit den Handschellen. »Er wird keinen Ärger machen. Bringen Sie ihn in den Polizeiwagen.«
»Entschuldigen Sie, Sergeant«, mischte sich Parrish ein, »aber dieser Mann ist sehr gefährlich. Ich sagte Ihnen bereits, dass er wegen politischer Vergehen gesucht wird. Er ist bereits aus deutschen und russischen Gefängnissen geflohen – «
»Meines Wissens gibt es in unserem Land keine politischen Vergehen«, versetzte ihm der Sergeant. »War er es, der die Beule an Ihrem Kopf verursacht hat?«
»Nicht direkt – «
»Und wer hat auf ihn geschossen?«
»Das war ich. Aber aus Notwehr, dazu war ich schließlich berechtigt – «
»Zweifellos, Sir. Ich bleibe noch und nehme Ihre Aussagen und die der übrigen Gentlemen auf. Constable, bringen Sie unterdessen diesen Mann zur Wache.«
Der Mann ist immerhin fair, dachte Goldberg, als er steif vor Schmerz in die Polizeikutsche stieg. Und zumindest habe ich jetzt keine Handschellen, über die ich mir Gedanken machen müsste …
Der Fahrer auf dem Bock ließ die Zügel klatschen.
Als der Wagen anrollte, lösten sich zwei durchnässte Gestalten aus dem Schatten und sprangen hinten auf. Dort war ein Trittbrett angebracht für Polizisten, die eingesetzt wurden, um Menschenmassen unter Kontrolle zu halten. Die Plattform bot ein bequemes Plätzchen für zwei zwölfjährige Jungen, vor allem für diese beiden, die an die Hintertür von Parrishs Haus getrommelt und während des Kampfes ungeduldig draußen gewartet hatten.
»Alles in Ordnung, Tony?«, flüsterte der eine.
»Alles klar, Con«, flüsterte der andere zurück. »Wir kriegen noch unseren Spaß. Halt dich fest, damit du nicht vorher runterfällst …«
Moishe Lipman rieb sich das kantige Kinn. Mit vier seiner Männer saß er in einer Kutsche an der Ecke des Fournier Square und beobachtete, was in Haus Nr. 12 vor sich ging. Dort herrschte geschäftiges Treiben: Lampen wurden hin und her getragen, Vorhänge sorgfältig zugezogen – aber von einem Kind keine Spur. Einer der Männer war sogar bis zur Küchentür geschlichen und hatte gelauscht, doch nichts gehört. Drei weitere hatten den rückwärtigen Bereich erkundet, wo die großen alten Häuser an einen Kirchhof stießen, doch auch sie hatten nichts gefunden, was auf die Anwesenheit des gesuchten Kindes gedeutet hätte.
»Was schlägst du vor, Boss?«, fragte ihn einer seiner Männer in der Kutsche. Lipman entgegnete nichts. Er war weder ein Denker noch konnte er durch Mauern sehen, aber als ehemaliger Boxer verstand er etwas vom Kämpfen. Halte dich erst einmal im Hintergrund; bleib in Deckung und warte, bis der Gegner sich eine Blöße gibt. Wenn du gleich losstürmst wie ein eigenwilliges Kind, kriegst du einen Schlag ab, der dich außer Gefecht setzt.
Andererseits kannte er aber auch den Wert eines Überraschungsangriffs. Wer auch immer die Leute in diesem Haus sein mochten, sie ahnten nicht, dass sie beobachtet wurden, und wenn Moishe alle seine Männer einsetzte, war das Haus in weniger als einer Minute gestürmt. Aber weniger als eine Minute war mehr als genug Zeit, um dem Kind eine Pistole an die Schläfe zu setzen …
»Schätze, wir warten ab«, sagte er
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