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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Harriet immer mit Bruin spielte, aber nur Jim war darin wirklich gut. Anschließend löschte Sally die Kerze und blieb im Dunkeln auf dem Bett liegen, während sich Harriet an sie kuschelte. Nun begann sie eine Geschichte über Jim und Onkel Webster im Dschungel zu erzählen. Was sie erzählte, war ein bisschen dürftig und blass. Sie wusste, dass sie nicht ein Zehntel von Jims Fantasie besaß. Aber Harriet schien es glücklich zu machen, wie sie beide so nebeneinander im Dunkeln lagen.

 
Die Steuereintreiber
     
     
    Ehe Margaret ging, hatte sie zu Sally gesagt: »Da war noch etwas. Wahrscheinlich hat es nichts zu bedeuten. Auf jeden Fall bestand Parrishs Büro aus zwei Räumen, einem hinteren, in dem er arbeitete, und einem vorderen, den man durchqueren musste, um zu ihm zu gelangen. Im vorderen waren zwei Schreiber und eine Menge Aktenordner, Bücher und der ganze Kram, den man in Büros erwartet – freilich war es kein Kram im eigentlichen Sinne, alles machte einen ungewöhnlich sauberen und aufgeräumten Eindruck. Als ich aus Parrishs Büro kam, war da noch ein dritter Mann bei den Schreibern im Raum. Er sah aus wie ein Mieteintreiber, jedenfalls hatte er so eine kleine Ledertasche bei sich. Ich war so wütend auf mich selbst, dass ich nicht darauf achtete, worüber die Männer redeten. Die Schreiber verstummten, als ich an ihnen vorbei zur Tür ging, aber ich meine gehört zu haben, wie der Mieteintreiber sagte ›So schröpfen wir das Judenpack‹ oder etwas Ähnliches. Mehr habe ich nicht verstanden, aber das ist mir gerade eben wieder eingefallen.«
    Darauf konnte sich Sally keinen Reim machen. Die Männer mochten über alles Mögliche gesprochen haben, über einen unerwarteten Gewinner eines Pferderennens, was die jüdischen Buchmacher eine schöne Stange Geld kosten würde, oder aber über etwas ungleich Bedrohlicheres. Doch sehr wahrscheinlich hatte es nichts mit ihrem Problem zu tun.
    Als Harriet eingeschlafen war, wurde Sally ein zweites Mal darauf gestoßen. Um sich etwas zu zerstreuen, griff sie nach einem Exemplar der Illustrated London News und blätterte es durch.
    In einer Überschrift sprang ihr das Wort »Juden« in die Augen. Darunter sah man eine Illustration zu den Pogromen in Kiew und im folgenden Artikel wurde anschaulich geschildert, wie der Mob russische Juden misshandelt, ihre Läden verwüstet und ihre Häuser geplündert hatte. Dabei schien es sich nicht um spontane Übergriffe oder blinde Gewalt zu handeln, vielmehr schien dahinter eine richtige Organisation zu stehen, die alles im Griff hatte. Sally las, dass Triller-Pfeifen eingesetzt wurden: Sobald ein Pfiff ertönte, hörten die Randalierer mit dem Plündern und Schlagen auf und tauchten in der Menge unter. Die Soldaten in den Garnisonen taten nichts, um die Juden zu schützen. Einige hatten mit verschränkten Armen zugesehen, wie ein alter Jude auf offener Straße verhöhnt und verprügelt wurde.
    Sally hatte anderswo gelesen, dass die russische Regierung eine antisemitische Politik verfolgte, seitdem der neue Zar den Thron bestiegen hatte. Sein Vorgänger war einem Attentat zum Opfer gefallen, und nun versuchte die Regierung den Juden die Schuld in die Schuhe zu schieben. Offenbar hatte sie nicht damit gerechnet, dass die antisemitischen Tendenzen solche Ausmaße erreichen konnten. War es das, worüber sich die Männer in Parrishs Büro unterhalten hatten? Es gab keine Möglichkeit, es herauszufinden.
    In derselben Zeitung stand auch eine Abhandlung über nationalökonomische Fragen, auf die sich Sally als Nächstes stürzte. An solchen Artikeln erprobte sie gern ihren Sachverstand. Doch der Inhalt irritierte sie eher. Der Verfasser bemühte sich darum, eine Arbeiter-Internationale auf die Beine zu stellen, nachdem sich die ursprüngliche Bewegung in ein sozialistisches und ein anarchistisches Lager gespalten hatte. Ein Mann namens Goldberg rief zu einer Einheitsfront gegen den Kapitalismus auf.
    Da sich Sally selbst als Kapitalistin betrachtete, fühlte sie sich von solchen Parolen nicht angesprochen. Über Sozialismus wusste sie wenig, geschweige denn, dass sie sich dafür interessiert hätte. Gewiss, die wirtschaftlichen Verhältnisse, in denen die Menschen lebten, waren sicherlich nicht vollkommen, aber Agitation, Propaganda und billiger Journalismus – sie hatte dem Artikel entnommen, dass Goldberg so etwas wie ein Journalist war – waren nicht die Mittel, sie zum Besseren zu wenden.
    Sie warf die Zeitschrift auf den

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