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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Erst muss ich jemanden im Visier haben, dachte sie. Ich weiß ja noch nicht einmal, wie Parrish aussieht.
    Ein Schauder lief ihr über den Rücken bei der Vorstellung, in diesem unsichtbaren Netz gefangen zu sein. Wie leicht könnte sie, angesichts so klarer Beweise wie jenes Eintrags im Heiratsregister, nach und nach zu der Auffassung kommen, dass alles doch der Wahrheit entsprach: dass sie wirklich verheiratet war und nur das Gedächtnis verloren hatte …
     
    Während Margaret Haddow zu Arthur Parrishs Büro im ersten Stock hinaufstieg, ging sie noch einmal die Geschichte durch, die sie sich zurechtgelegt hatte. Was Sally zugestoßen war, schien unglaublich, aber Sally war ja auch eine weitaus weniger konventionelle junge Frau, als sie das selbst von sich behaupten würde. Margaret, in ihrer trockenen Art, mochte sie sehr.
    Sie klopfte, wurde eingelassen und saß kurz darauf in einem ordentlichen kleinen Büro besagtem Mr Parrish gegenüber.
    Er war ein gepflegter Herr mit sauber gekämmtem, schwarzem Haar und schmalen Oberlippen. Lackaffe war der passende Ausdruck für ihn, dachte Margaret. Sein Blick aber war beunruhigend kalt und ein gieriger Zug lag um seinen Mund. Kein bisschen Eitelkeit, obgleich er als gut aussehend gelten konnte. Der Anzug, den er trug, war dunkel, der Kragen perfekt gestärkt, die Krawatte zeigte ein dezentes Muster, und auch die drei Ringe, die an seinen Fingern blinkten, gingen nicht über das hinaus, was viele Männer damals trugen.
    Margaret prägte sich alles ein, vermied aber jedes Starren. »Mr Parrish, übernehmen Sie auch Kommissionen in Amerika?«, begann sie.
    »Überall auf der Welt«, war die Antwort. »Woran dachten Sie denn?«
    »Ich habe einen Cousin in Buffalo, im Staat New York. Er möchte ein Importgeschäft für Porzellanwaren aufmachen und hat mich gebeten, ob ich ihm nicht ein paar Muster von den besten Manufakturen besorgen könnte …«
    Mr Parrish machte sich mit einem silbernen Bleistift ein paar Notizen.
    »Die meisten Firmen dieser Branche haben ihre eigenen Vertreter«, sagte er. »Ihr Cousin wird sich gegenüber eingeführten Vertriebswegen behaupten müssen, ist ihm das bewusst?«
    »Er spekuliert darauf, im hochpreisigen Bereich eine Nische zu finden. Ich glaube, er denkt eher an kunsthandwerklich hergestellte Stücke. Aber ich verstehe nichts von Porzellan, Mr Parrish, und auch nichts von Geschäften. Wie sollte man am besten vorgehen?«
    Er legte den Bleistift beiseite und erklärte, der Cousin täte gut daran, sich direkt an die Manufakturen zu wenden und ihnen seine Dienste anzubieten. Er könne ihm eine Liste mit Herstellernamen und Adressen besorgen. Falls erwünscht, würde er auch Muster von den Firmen kaufen und dem Cousin zur Begutachtung zusenden.
    Margaret war beeindruckt. Sein Auftreten war dynamisch und professionell, seine Auskunft kompetent. Nichts deutete darauf hin, dass er als Geschäftsmann etwa nicht durch und durch vertrauenswürdig wäre.
    Sie dankte ihm, stellte noch ein paar beiläufige Fragen, um die erfundene Geschichte plausibel erscheinen zu lassen, und sagte dann, sie werde ihrem Cousin schreiben und abwarten, wie er sich entscheide.
    Dann, als sie schon aufgestanden war und gehen wollte, erwischte er sie kalt.
    »Übrigens, Miss Haddow, Sie können meiner Frau sagen, dass es ihr nichts einbringt, Sie als Spionin zu mir zu schicken. Sollten Sie wirklich einen Cousin in Buffalo haben, der mit Porzellan handeln möchte, kann ich Ihnen durchaus behilflich sein. Wollen Sie meinen professionellen Rat befolgen? Nein? Nun, ich hatte auch nicht den Eindruck. Also denken Sie an meine Worte.«
    Es hatte ihr die Sprache verschlagen. Mit hochrotem Gesicht sah sie ihm noch einmal in die kalten Augen, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und ging.
     
    »Das war ein Schlag ins Wasser«, gestand sie Sally, als die beiden später in Orchard House am Teetisch saßen. »Was war ich für ein Narr. Er wusste von Anfang an Bescheid; und ich hielt mich für besonders schlau …«
    Harriet saß oben in der Badewanne. Später, wenn Sarah-Jane sie erst einmal ins Bett gebracht hatte, würde Sally hinaufgehen, noch eine Weile an ihrem Bett sitzen, ihr eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen und ein paar Kinderlieder singen. Im Moment aber waren Sally und Margaret allein und außer dem summenden Wasserkessel und gelegentlichem Hufgetrappel von der Straße her war kein Laut zu hören.
    Normalerweise liebte Sally es, wenn sich die Dämmerung über den Garten

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