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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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senkte, doch heute Abend hatte sie die Vorhänge schon früh zugezogen. Es schien ihr, als würde nicht das Licht schwächer, sondern die Finsternis immer stärker, und die wollte sie draußen halten.
    Da klopfte es an der Tür. Ellie kam herein, um das Teegeschirr abzuräumen. Sie war ein zuverlässiges, gefälliges Mädchen, das bereits für die Garlands gearbeitet hatte, als sie noch in Bloomsbury wohnten, vor dem Brand, bei dem Frederick umgekommen war. Kürzlich hatte sie sich mit dem Stallburschen des hiesigen Arztes, Dr Talbot, verlobt. Sie würde den Haushalt also bald verlassen. Sally freute sich für sie, bedauerte aber zugleich, solch ein anständiges Mädchen zu verlieren.
    Als sie Ellie ihre Tasse samt Untertasse reichte, kam ihr plötzlich ein Gedanke.
    »Ellie«, begann sie, »wie viele Leute wussten eigentlich, dass Mr Webster und Mr Jim für längere Zeit verreisen würden?«
    »Sie meinen, hier in der Stadt, wie viele Leute das wissen? Ach, ich würd mal sagen, die meisten, die sie kennen. War ja kein Geheimnis, oder?«
    »Hast du irgendjemandem erzählt, wohin sie verreist sind?«
    »Nur dem Sidney, Miss, Sie wissen ja, meinem Zukünftigen. Hab ich was falsch gemacht?«
    »Aber nein, Ellie. Weiß sonst noch jemand, dass die beiden zurzeit im südamerikanischen Dschungel unterwegs sind? Hast du zum Beispiel von Jims letztem Brief gesprochen?«
    »Eigentlich nur zu Mrs Perkins, glaub ich, so richtig dran erinnern kann ich mich nicht. Moment mal, doch, der Brief mit der verschmierten Tinte, ja Miss, da haben Sie gesagt: Oh, der ist wohl in den Amazonas gefallen. Sie haben mir ja vorgelesen, was Mr Jim geschrieben hat. Die Geschichte da mit den Schrumpfköppen und so weiter, und wie er noch Witze gemacht hat, entweder kommen er und Mr Webster auf einem Schiff oder in einem Pappkarton nach Hause. Da hat sich Mrs Perkins schiefgelacht und gesagt, wenn die Mannsleute ihre Schrumpfköppe heimschicken, dann hängt sie sie über den Herd, um die Fliegen vom Braten zu verscheuchen. Aber davon mal abgesehen, wir haben in der Küche drüber geredet und der Scherenschleifer ist auch dazugekommen und hat mitgelacht. Ich weiß ja, eigentlich soll man über so was nicht lachen, aber Mr Jim hätte bestimmt noch mehr gelacht als wir alle zusammen.«
    »Das hätte er sicherlich. Wer ist denn der Scherenschleifer?«
    »Seinen Namen habe ich vergessen, Mrs Perkins kennt ihn, glaube ich. Der alte Scherenschleifer hat vergangenes Jahr aufgehört und dann kam dieser Kamerad an. So einmal im Monat wetzt er Messer und Scheren und so weiter. Aber eins ist doch komisch, Miss …«
    »Was ist komisch, Ellie?«
    »Er geht nicht zu Doktor Talbot. Mein Sidney sagt, zu ihnen kommt immer noch der alte Mr Pratt, das ist der alte Scherenschleifer. Aber zu uns kommt er nicht mehr, dafür haben wir jetzt diesen Neuen. Ein netter Bursche, übrigens, und so aufgeweckt, möchte immer alles wissen. Und wie fix er bei der Arbeit ist. Der alte Mr Pratt hat dagegen immer ewig gebraucht. Nicht dass Mrs Perkins ihn abbestellt hat, nein, so was würde sie nicht machen, aber eines Tages hat dieser Geselle angeklopft und gesagt, Mr Pratt hätte sein Handwerk an den Nagel gehängt und ob er jetzt seine Arbeit machen dürfe. Hab ich was falsch gemacht, Miss?«
    »Aber nein, Ellie. Sag, wann kommt der Mann wohl wieder?«
    »Er war erst letzte Woche da, also kommt er so schnell nicht noch mal. Er hat keine festen Zeiten, alle paar Monate oder so.«
    »Wenn er das nächste Mal kommt, sagst du mir Bescheid, ohne dass er davon weiß. Du brauchst mir nur zu sagen, wenn er in der Küche ist.«
    »Mach ich, Miss Lockhart, geht in Ordnung.«
    Sie räumte die Teetassen und die Teller auf und ging hinaus.
    »Also ein Spion«, sagte Margaret.
    »So sieht es aus«, sagte Sally.
    »Und? Willst du zur Polizei gehen?«
    »Die würden mich doch bloß auslachen, Margaret. Worin bestünde denn das Vergehen? Vergiss nicht, dass dieser Herr mit mir verheiratet ist, zumindest glauben sie das. Hat er nicht das Recht, das Leben seiner Frau auszuspionieren?«
    »Nun gut, dann eben dein Anwalt, geh zu deinem Anwalt.«
    »Ja, das werde ich wohl tun«, sagte Sally. »Vielleicht kann er mir helfen.«
    Kurz darauf machte sich Margaret auf den Weg zum Bahnhof und Sally ging zu Harriet hinauf. An diesem Abend blieben sie besonders lange zusammen. Sally hielt ihre kleine Tochter fest im Arm und sang ihr alle Kinderlieder vor, die sie kannte. Dann schlug sie noch ein Spiel vor, das

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