Der Tiger im Brunnen
diese beiden Stapel hatte sie so gelassen, wie Webster und Jim sie zusammengestellt hatten. Websters Stapel enthielt ein Lehrbuch der Physik, einen Bericht von einer Bolivien-Reise, auf Deutsch, dazu ein deutsches Wörterbuch; in dem einen steckte eine Feder, im anderen ein Stück Lackmuspapier als Lesezeichen. Sie nahm diesen Stapel und setzte ihn auf das kleine, drehbare Buchregal neben Websters Stuhl.
Jims Bücher waren größtenteils Schauerromane, übler Schund mit Titeln wie Die Schlucht der Skelette oder Der Buschfeuer-Mann. Sie lächelte, als sie sie in die Hand nahm, und erinnerte sich, wie stolz Jim war, wenn eine Geschichte von ihm veröffentlicht wurde. Auch Ausgaben von Charles Dickens’ Großen Erwartungen und Walter Scotts Redgauntlet waren darunter.
Sally stellte die Bücher auf das große Regal an der Längsseite des Frühstückszimmers und nahm dann das Gemälde von der Staffelei neben der Tür.
Webster hatte es kurz vor seiner Abreise erstanden und keine Zeit mehr gefunden, es rahmen zu lassen. Es war eine kleine Ölskizze von Camille Pissarro, einem französischen Impressionisten: Eine Vorstadtstraße im Morgenlicht war mit einer solchen Frische gemalt, dass man die kühle Brise zu spüren glaubte, die kleine weiße Wölkchen über einen Streifen blauen Himmels trieb. Webster hatte die impressionistischen Maler seit ihrer ersten Ausstellung vor fünf oder sechs Jahren zu sammeln begonnen. Er erkannte in ihrer Auseinandersetzung mit dem Licht in der Malerei eine Parallele zu seinen eigenen Experimenten, in denen es um das Festhalten der Zeit durch die Kunst der Fotografie ging.
Nun, der Pissarro würde bis zu Websters Rückkehr ohne Rahmen bleiben. Sally hatte zwar gesagt, sie werde sich darum kümmern, doch dazu hatte sie jetzt wirklich keine Zeit. Sie brachte das Bild nach oben in sein Arbeitszimmer und räumte anschließend die Staffelei beiseite.
Das Stereoskop in dem Mahagonikasten auf dem Sideboard und daneben der Karton mit den Bildern …
Damit hatte die Firma Garland & Lockhart begonnen. Sie hatte Frederick davon überzeugen können, eine Serie spaßiger Aufnahmen in der Stereotechnik zu machen. Das Stereoskop war das Wohnzimmerkino jener Epoche, es vermittelte dem Betrachter den magischen Eindruck lebensnaher, plastischer Bilder. Die Stereobilder verkauften sich so gut, dass man weitere Serien herstellen und bald ein richtiges Geschäft eröffnen konnte. Hier waren sie alle versammelt: Szenen aus Dramen Shakespeares, Schlösser und Burgen Großbritanniens, Ansichten des alten London … Und auch die allererste Serie: Jim als biblischer David mit dem Haupt des Riesen Goliath aus Pappmaschee; Sally als Küchenmagd, die einen Schwarm gänsegroßer schwarzer Ungeziefer im Büfett entdeckt; die kleine Adelaide, die sie aus einer düsteren Mietskaserne in Wapping gerettet hatten und die hier zur Illustration eines sentimentalen Lieds auf Trembler Molloys Schoß sitzt, Fredericks früherem Kompagnon … Adelaide war dann irgendwann von der Bildfläche verschwunden. Vermutlich lebte sie irgendwo in London. Doch sie blieb unauffindbar. Die Riesenstadt hatte sie aufgesogen.
Der Ausblick der Stereobilder brachte die Vergangenheit so lebhaft zurück, dass Sally plötzlich mit den Tränen zu kämpfen hatte. Sie legte sie wieder in den Karton zurück, schloss den Deckel und räumte sie zusammen mit dem Stereoskop in den Schrank.
Harriets Spielsachen … Man mochte noch so genau nachschauen, immer blieb irgendein Spielzeug hinter Kissen oder unter Möbeln liegen. Sally bückte sich und fand Bauklötze hinter dem Sofa. Die würde sie nachher mit nach oben nehmen.
Auch Fredericks Foto, das sonst in einem Silberrahmen auf dem Klavier stand, hatte sie fortgenommen. Es war eine Ganzkörperaufnahme und zeigte Frederick nicht, wie sonst bei Porträtfotografien üblich, ausstaffiert und in steifer Haltung, sondern in Alltagskleidung, mit ungekämmtem Haar und strahlenden Augen. Es war das einzige Bild, das Sally von ihm besaß. Charles Bertram, Websters Partner bei den fotografischen Experimenten, hatte es aufgenommen. Auch er war mit den anderen nach Südamerika gereist. Charles hatte einen guten Charakter, er war freundlich und zuvorkommend. Vergangenes Jahr hatte er Sally gefragt, ob sie ihn heiraten wolle, und sie war sorgsam darum bemüht, ihn nicht zu kränken, als sie Nein sagte.
Sally kam ein Gedanke. Wenn sie Charles geheiratet hätte, ob Parrish die Falle wohl trotzdem hätte zuschnappen
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