Der Tiger im Brunnen
den Prozess verlor?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich schon. Ist das wichtig?«
»Nein. Wohl nicht. Es fiel mir nur gerade ein. Vielen Dank, Mr Bywater. Sagen Sie auch Ihrem Bekannten, dass er mir sehr geholfen hat. Werden Sie auch Mr Adcock davon unterrichten?«
»Wenn Sie es wünschen, Miss Lockhart. Schaden kann es kaum.«
Der Ton, in dem er es sagte, machte allerdings unmissverständlich klar, dass es ebenso wenig etwas nützen würde.
Sally dankte ihm nochmals, sagte Auf Wiedersehen und ging.
Die kurze Notiz auf dem Zettel war es wohl nicht wert, sich sofort nach Spitalfields zu begeben, zumal die Verbindung zu Sallys Fall nur sehr lose schien. Es war schon später Nachmittag und sie wollte rechtzeitig wieder daheim sein. Während sie die Middle Temple Lane Richtung Fleet Street hinaufging, ertappte sie sich immer wieder beim Gähnen. Eine bleierne Müdigkeit kam über sie. Am liebsten hätte sie sich in den Schlaf sinken lassen, aber das ging nicht, denn irgendjemand in ihrer Nähe stellte Fallen, warf Netze aus und streute Gift. Sie musste wachsam und tatkräftig sein, sie musste diesem absurden Treiben ein Ende bereiten, auf die Art, wie man Spinnweben wegfegt. Schließlich steckte doch nichts dahinter; der Mann musste verrückt sein.
Sie streckte sich, hob den Kopf und öffnete weit die Augen, um die verführerische Schläfrigkeit zu vertreiben. Bisher hatte Sally nicht gewusst, wie müde man werden kann, wenn einen Sorgen drücken.
An der Ecke Fleet Street machte sie an einem Zeitungsstand halt und kaufte die neueste Ausgabe der Illustrated London News sowie einen Jewish Chronicle. Nun, da sie von den Pogromen in Russland erfahren hatte, wollte sie mehr darüber wissen. Der Waffenfabrikant Axel Bellmann, der die Schuld an Fredericks Tod trug, hatte in Russland Geldgeber gefunden und seitdem interessierte sie sich für die Verhältnisse in diesem Land.
Frederick …
Manchmal, wenn sie es am wenigsten erwartete, hatte sie plötzlich das Gefühl, er sei ganz nah bei ihr. Es schien, als musste sie nur den Kopf drehen, um ihn zu sehen. Sie war davon überzeugt: Es waren keine Fantasien oder Tagträume; er war ihr tatsächlich gegenwärtig.
Auch jetzt, beim Verlassen des Zeitungsstandes, überkam Sally dieses Gefühl. Es war so stark, dass ihr fast die Luft wegblieb und ihre Lippen schon den Anfang seines Namens formten: Fred …
Nichts. Das fahle Licht des herbstlichen Spätnachmittags, ein befremdet dreinschauender Passant im dunklen Mantel und ringsum der dichte Verkehr der Fleet Street. Aber kein Frederick.
Dennoch verschwand der Eindruck seiner Präsenz nicht sofort. Das Gefühl wunschlosen Glücks und vollkommener Gewissheit überstrahlte alles andere, so wie Websters Magnesiumblitze noch eine ganze Weile nach dem Abbrennen als schwankendes Bild im Auge der Fotografierten nachwirkten.
Sally klemmte sich die Zeitungen unter den Arm und machte sich auf den Nachhauseweg.
An diesem Abend war Sarah-Jane Russell ausgegangen; sie wollte den Abend bei ihrer verheirateten Schwester in Twickenham verbringen. Sally war allein und begann, ohne selbst zu wissen, warum, das Frühstückszimmer aufzuräumen.
Es war der Mittelpunkt des Hauses, der Ort, wo man abends beisammensaß und plauderte, wo man las oder arbeitete. Gewöhnlich aßen sie auch hier, abgesehen von feierlichen Anlässen, zu denen der Tisch im Esszimmer gedeckt wurde. Es war das größte Zimmer im ganzen Haus. Seine Fenstertüren gingen zur Terrasse hin und gaben den Blick auf den Rasenplatz frei. Das Zimmer war Atelier, Wohnzimmer und Bibliothek in einem. Nur als Labor wurde es nicht benutzt. Als sie noch in der Burton Street in Bloomsbury wohnten, hatte Webster Garland die alte Küche, die ihnen damals auch als Wohnzimmer diente, oft mit dem Gestank und Rauch seiner chemischen Experimente erfüllt. In Orchard House hatte Sally derartige Aktivitäten aus dem Frühstückszimmer verbannt.
Sie drehte die Lampen stärker auf und räumte den großen Tisch ab, zuerst den Atlas, auf dem sie Websters und Jims Südamerikareise verfolgt hatte, dann ihre Arbeitspapiere.
Sally verstaute alles in dem kleinen Nussbaumsekretär. Auf dem Tisch stand noch eine Vase mit einem Blumenstrauß, ein Geschenk Margarets. Sie stellte ihn auf den Kaminsims neben die Uhr, die man ihr vergangenes Jahr aus der Schweiz mitgebracht hatte. Übrig blieben ein paar Bücher auf zwei säuberlich angeordneten Stapeln. Überall im Zimmer befanden sich Bücher, aber
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